Die unmittelbare Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 war vielfach nicht nur Entsetzen über die grausamen Taten, sondern auch offene Freude, Parteinahme für die islamistische Organisation oder zumindest Verständnis für ihr Handeln. Der israelbezogene Antisemitismus brach sich in Deutschland nach dem Angriff der Hamas verstärkt Bahn, ist aber nicht die einzige virulente Form.
Zusammenfassung
Obwohl der Antisemitismus Kern der Hamas-Ideologie ist und die Terrororganisation in ihrer religiös-fanatischen Märtyrer-Ideologie Opfer der eigenen Bevölkerung bewusst in Kauf nimmt, richtete sich die Empörung oftmals allein auf Israel. Im folgenden Aufsatz wird diese Reaktion als Hinweis auf die Verbreitung einer aktuellen Form des Antisemitismus beschrieben, in dem das Ressentiment sich gegen Israel als „der kollektive Jude“ (Klug 2003) richtet. Der israelbezogene Antisemitismus dient als Brückenmotiv über verschiedene politische Lager und Länder hinweg. Er brach sich nach dem Angriff der Hamas auch in Deutschland in gesteigertem Ausmaß Bahn (Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. 2023), ist aber mitnichten die einzige virulente Form. Wir berichten über ausgewählte empirische Ergebnisse zur Verbreitung des Antisemitismus und weisen auf eine notwendige Erweiterung der Forschung hin.
Antisemitismusforschung
Gegenwärtig geht von der organisierten autoritären Rechten die größte Bedrohung der Gesellschaft aus. Sie kann ihre Propaganda an verschiedene, in der Bevölkerung weit verbreitete Ressentiments anknüpfen. Man kann diese Ressentiments und die ihnen zu Grunde liegenden autoritären Aggressionen als ein Wesensmerkmal solcher Parteien begreifen – erfolgreich sind diese aber, weil ihr Angebot nicht nur am „rechten Rand“ verfängt. Und gefährlich sind sie, wie am Beispiel des Antisemitismus besonders deutlich wird, weil sie eine autoritäre Dynamik ausdrücken, die die Gesellschaft insgesamt durchzieht. Wir sprachen deshalb in der Vergangenheit lange von der „Mitte“ der Gesellschaft (zuletzt Decker & Brähler 2018). Antisemitismus ist kein Vorurteil, sondern ein Ressentiment (vgl. z.B. die Material gesättigte Analyse von Ranc 2016) und trifft daher nicht nur die vom Hass betroffenen Gruppen. Vielmehr hat Antisemitismus auch eine zentrale Funktion in modernen Gesellschaften – sowohl politisch, im sozialen Raum, als auch psychisch, für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder.
Die Antisemitismusforschung war deshalb in den Sozialwissenschaften von Anfang an nicht nur Beschäftigung mit einem Ressentiment unter vielen (Horkheimer & Adorno 1944; Adorno 1947). Und auch mit ‚der Mitte‘ war von uns nicht etwa nur ein soziales Milieu gemeint, sondern das Zentrum der Gesellschaft selbst: Die in der Gesellschaft bestehenden und auf die Individuen wirkenden Widersprüche und der gleichzeitig auf vielen lastende und von vielen geteilte Wunsch nach Identität (Becker-Schmidt 2004). Was beim Nationalismus und völkischen Ideen der extremen Rechten offen zutage tritt, ist innerhalb anderer gesellschaftlicher Milieus verdeckter – und trotzdem nicht weniger präsent. Augenfällig wurde das in den letzten Jahren auch in der bewegungsförmigen Linken, wo in Teilen der Identitätspolitik auch der Wunsch nach Gruppenidentität zu Tage trat. Hier wie dort wurde und wird die Gruppenidentität mit immer neuen Ausschlüssen erkauft (Knapp 2014). Die psychische und politische Funktion von Juden und Jüdinnen ist in modernen Gesellschaften die einer Projektionsfläche; die Fiktion einer homogenen Identität wird in ihnen durch die projektive Aufladung von Juden und Jüdinnen als „absolut“ Fremden erkauft (Holz 2001; Stender 2013). Wie weit dieser Identitätswunsch reicht, wie stark dieses Denken in Identität die Gesellschaft selbst in progressiven Gruppen durchzieht, müssen wir nach dem Angriff der klerikal-faschistischen Hamas auf Israel in aller Deutlichkeit erkennen: Die spontane Solidarität mit einer vom antisemitischen Hass durchzogenen politischen Terrororganisation machte die bereits vorher existenten Ressentiments in der demokratischen Zivilgesellschaft (Decker 2023) sichtbar. Hintergrund ist der früh kritisierte Umstand, dass in Teilen die Gender Theories, Postcolonial Studies und Critical Whiteness Theories von einer Identitätslogik getragen werden (Knapp 1994; Landweer 1994). Es fiel auch der Kontrast zur gesellschaftskritischen Theoriebildung bis in die 1960er Jahre sehr deutlich ins Auge (Knapp 2012): sowohl die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, als auch mit der Bedeutung der Shoah für die eigene Positionierung und für die formulierte Gesellschaftskritik blieben in diesen Konzeptionen zu oft die große Leerstelle (Chaouat 2016). Unter dem Eindruck des aktuell besonders sichtbar werdenden Antisemitismus von links rückt auch dieser „blinde Fleck“ (Baddiel 2021) und seine Folgen mit Dringlichkeit in den Fokus (Marty 2015).
Antisemitismus ist das „Gerücht über den Juden“, wie der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno formulierte (Adorno 1954, 200). Gemeint ist damit die projektive Aufladung von Juden als gleichzeitig machtvolle und schwache Gruppe, die durch eine ebenfalls wahnhafte Wahrnehmung dieser Gruppe als absolut fremd und von der eigenen Identität fundamental unterschiedlich gekennzeichnet ist. Diese Wahrnehmung ist nicht durch Erfahrung zustande gekommen, sondern Ergebnis eines, im antisemitischen Ressentiment zu seinem Ausdruck drängenden Bedürfnisses. Es kommt in modernen Gesellschaften zustande durch einen gesellschaftlichen Druck zum widerspruchsfreien, mit sich selbst und den gesellschaftlichen Normen Identischen, in dem für Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten oder verpönte Wünsche kein Platz ist. Das so Verdrängte bleibt unbewusst hoch bedeutsam und wird dadurch für das Individuum und die Gesellschaft umso bedrohlicher. Die Konjunkturen des Judenhasses sind daher immer auch Reaktionen auf gesellschaftliche Krisen, in denen die erstarkende Gruppenidentität gleichzeitig ein „Fremdes“ als Projektionsfläche des von dieser Identität Abgespaltenen notwendiger macht als unter normalen Betriebsbedingungen. Ist ohne Krisenerleben die Schwierigkeit mit Uneindeutigkeit umzugehen scheinbar der Sonderfall, bedarf es in einer Krise geradezu einer Figur, an der die Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit stellvertretend abgewehrt werden kann. So stieß die Antisemitismusforschung auch früh auf die Ambiguitätsintoleranz, jene Abwehr des eigenen und gesellschaftlichen „Unheimlichen“, weil es nur zu vertraut ist (Frenkel-Brunswik 1949).
Empirische Ergebnisse: Die Verbreitung des Antisemitismus
Auch weil die Stärke des antisemitischen Ressentiments und die Bedürfnisse nach seiner Äußerung unmittelbar in das Zentrum der Gesellschaft führt, ist die Frage nach der Verbreitung von so großer Relevanz. Im Folgenden stellen wir deshalb zunächst die Ergebnisse von Befragungen dar, die wir im Bundesgebiet durchgeführt haben, den Leipziger Autoritarismus-Studien (LAS). Es handelt sich um repräsentative Erhebungen, zu deren Kernelementen der tradierte Antisemitismus gehört, dessen Erscheinungsformen wir im Laufe der Jahre um die Dimensionen des israelbezogenen und Schuldabwehrantisemitismus ergänzten (Decker et al. 2022).
Als tradierten Antisemitismus bezeichnen wir Äußerungsformen, die unmittelbar das Bedürfnis zur Äußerung des Ressentiments befriedigen. Israel- und Schuldabwehrantisemitismus sind wiederum Äußerungsformen, die besonders dann gewählt werden, wenn die soziale Ächtung des Antisemitismus in der Gesellschaft zu stark ist. Das Ressentiment äußert sich dann in der Umwegkommunikation über andere Motive (Bergmann & Erb 1986).
Im Überblick werden die Ergebnisse der LAS 2022 hier wiedergegeben und eingeordnet. Dabei werden die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Umfrageforschung zum Antisemitismus deutlich. Ohne ergänzende Studien droht immer die Gefahr, die destruktive Dynamik zu unterschätzen.
Alle verwendeten Grafiken stammen aus der LAS 2022.
In Grafik 1 sind die Befunde zur Dimension des tradierten Antisemitismus wiedergegeben. Der manifeste Prozentanteil gibt die ausdrückliche Zustimmung zu den Aussagen wieder, der latente Prozentanteil eine Abstufung, alle andere lehnen diese Aussagen jeweils ausdrücklich ab.
Grafik 1: Manifeste und latente Zustimmung zu den Aussagen der Dimension »Tradierter Antisemitismus« im Bundesgebiet (Neo-NS Ideologie; in %), Pearsons Chi-Quadrat: **p < ,01
In diesen Items finden typische Formen des „Gerüchts über den Juden“ ihren Ausdruck. Sie wurden 2022 in der Bundesrepublik von einem Fünftel bis einem Drittel der Befragten geteilt. Im Osten ist der Anteil bezogen auf die absolute Zustimmung deutlich höher als im Westen, am deutlichsten wird dies bei der Zuschreibung, Juden hätten einen „zu großem Einfluss“. Hier sieht man aber auch, dass die ausdrückliche Zustimmung in Ost und West auf gleichem Niveau liegt.
Im Zuge der internationalen Bürgerrechtsbewegung gegen die Herabsetzung von Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, Geschlechts oder sexuellen Orientierung kam es auch zu einer sozialen Sanktionierung des Antisemitismus. In Deutschland traf diese Entwicklung zusätzlich auf die intergenerationale Schuld- und Schamverstrickung, durch die bis in die Gegenwart hinein die Nachfahren der Täter und Mitläufer in die Shoah verwickelt sind. Diese Schuldverstrickung machte die Sanktion des Antisemitismus nicht etwa leichter, sondern schwerer (Lohl & Moré 2014).
Schon unmittelbar nach dem Krieg kam es zu einem Antisemitismus, nicht trotz, sondern wegen der Shoah. Der Sozialforscher Peter Schönach beschrieb einen Schuldabwehrantisemitismus, mit dem nachfolgende Generationen versuchten, durch eine Schuldumkehr die eigenen Eltern von der Verantwortung für die Shoah zu entlasten (Schönbach 1961). Gleichzeitig konnte das Bedürfnis, welches zum Antisemitismus trieb, befriedigt werden: Die Juden werden gehasst, diesmal als diejenigen, durch die die Erinnerung an die Taten an die Oberfläche tritt.
Grafik 2: Manifeste Zustimmung zum Schuldabwehrantisemitismus 2012, 2018, 2020 und 2022 im Bundesgebiet (in %), signifikante Unterschiede zwischen Ost und West im Jahr 2022, Pearsons Chi-Quadrat: **p < .01, *p < .05
Entsprechend bildet sich eine bis heute spezifische Form des Antisemitismus aus und spielt in der Bundesrepublik eine bedeutsame Rolle. Die Unfähigkeit von Nicht-Juden mit Juden im Alltag umzugehen, ist nur eine und eine relativ unpolitische Erscheinung dieses Phänomens (s. Abschnitt Ausblick in diesem Text). Deutlicher wird es in der auch von der AfD genutzten Propaganda für eine „180 Grad-Wende in der Erinnerungspolitik“ oder schon früher durch die Rede vom angeblichen „Schuldkult“. Grafik 2 können wir entnehmen, wie groß der Echoraum für diese Propaganda ist. Die Schuldabwehr findet durchgängig bei jedem dritten Befragten ausdrückliche Zustimmung, das antisemitische Bild der „gierigen Anwälte“ hinter den Restitutionsforderungen wird nur von der Hälfte der Deutschen abgelehnt und ein faktisches Ende der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fordern fast zwei Drittel der Befragten. Schuldabwehrantisemitismus ist die „deutsche“ Form der antisemitischen Umwegkommunikation.
Allerdings gilt nicht nur in Deutschland, dass das Bedürfnis existiert, dem antisemitischen Ressentiment Raum zu geben. Und auch in anderen Ländern gibt es eine Ächtung des Antisemitismus, und auch dort findet er trotzdem seinen Ausdruck (Arnold 2016).
Als prominentestes Beispiel ist der israelbezogene Antisemitismus zu nennen. Er bildet eine Brückenideologie zwischen verschiedenen sozialen Milieus und politischen Positionen – und ist international verbreitet. Seine Existenz und sein Erstarken verdeutlicht, dass auch heute der wachsende Wunsch nach sozialer Identität nicht ohne Verrechnungskosten zu haben ist – ob das Angebot mit dem Nationalismus von rechts oder mit regressiven Identitätspolitiken und „Blasen“ von links kommt. Auf die latenten Zustimmungswerte können wir hier auf Grund der hohen manifesten Zustimmung nicht mehr eingehen.
Grafik 3: Manifeste Zustimmung zum israelbezogenen Antisemitismus 2012, 2018, 2020 und 2022 im Bundesgebiet (in %), Pearsons Chi-Quadrat: **p < .01, *p < .05
Die Bedeutung des Antisemitismus als übergreifendes Ressentiment gegen die Moderne
In Deutschland und auch international ist nach den Massakern vom 7. Oktober 2023 die Frage nach dem Stellenwert des Antisemitismus als eines übergreifenden antimodernen Ressentiments von höchster Bedeutung. Deshalb wollen wir die Verbreitung seiner verschiedenen Erscheinungsformen in unterschiedlichen politischen Milieus in den Blick nehmen. Dafür ziehen wir die Selbsteinschätzung der Probanden hinzu, die gebeten wurden, sich auf einer zehnstufigen Skala politisch zu verorten (zwischen „Links“ und „Rechts“).
Wir können nur mit Daten vor dem Terrorangriff auf Israel eine Tendenz abbilden, die allerdings aussagekräftig ist und weitere Forschungsfragen deutlich macht. Zur besseren Darstellbarkeit haben wir diese Abstufung auf fünf Positionen reduziert und das Vorkommen manifester Ressentiments gegenüber Jüdinnen und Juden in diesen Gruppen berechnet (Grafik 4). Sehr deutlich zeigt sich, dass antisemitische Ressentiments umso häufiger geteilt werden, je weiter rechts sich die Befragten selbst verorten. Dem tradierten Antisemitismus stimmen Menschen, die sich links außen im politischen Spektrum verorten (N = 104), nicht manifest zu. Die Differenz zwischen denen, die sich links (N = 657), und jenen, die sich in der politischen Mitte (N = 1272) verorten, ist zu vernachlässigen – es finden sich um die 2% mit manifestem tradierten Antisemitismus. Das Bild verändert sich bei denen, die sich rechts der Mitte (N = 393) oder sogar rechts außen verorten (N = 44), signifikant. Auch bei den anderen Formen des Antisemitismus ist der Befund so eindeutig, dass nicht allein von einer Tendenz gesprochen werden kann.
Grafik 4: Manifeste Zustimmung zu Erscheinungsformen des antisemitischen Ressentiments in Abhängigkeit der politischen Selbstverortung (in %), Pearsons Chi-Quadrat: **p < .01, *p < .05
Die Messung birgt allerdings eine gewisse Unsicherheit. Die ausdrückliche Ächtung des Antisemitismus gehört zum Selbstverständnis nahezu aller linken Parteien und Bewegungen. Entsprechend ist anzunehmen, dass die Antworten von Probanden, die sich selbst als links einordnen, noch einmal stärker im Sinne der sozialen Erwünschtheit ausfallen und Ressentiments per Umwegkommunikation zur Geltung kommen könnten. Diese Entwicklung wurde seit Jahrzehnten beschrieben (Brumlik, Kiesel & Reisch 1991; Diner 2004; Brosch, Elm & Geißler 2007). Die Schwierigkeit, diesen in Untersuchungen wie den LAS abzubilden, sind vielschichtig. In jedem Fall muss das erfasste Spektrum an Motiven des Ressentiments erweitert werden.
Gerade mit Blick auf die erschreckende Opfer-Täter-Umkehr und die Artikulation von antisemitischen Ressentiments nach den Simchat-Tora-Massakern im Oktober 2023 muss die Messung von Antisemitismus überarbeitet werden. Die Rationalisierung des antisemitischen Ressentiments mit Motiven der Postcolonial Studies, der „black-lives-matter“-Bewegung oder der „queeren“ und Klimaschutzbewegung (vgl. Potter & Lauer 2023) bedarf zusätzlicher empirischer und theoretischer Analysen.
Ausblick: Mehr und integrierte empirische Forschung zum Antisemitismus ist dringend erforderlich
Die Verbreitung des Antisemitismus wird in unserer Erhebung also eher unterschätzt. Um einen Eindruck von der tatsächlichen Verbreitung zu bekommen, findet deshalb die Abstufung der quasi-metrischen Skalierung Berücksichtigung, Antworten jenseits der vollständigen Ablehnung der jeweiligen Aussagen werden also nicht ignoriert (Liebig 2023). Auskunft über die Verbreitung von Antisemitismus kann die Forschung zur Wahrnehmung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft geben. Sie führte schon vor dem 7. Oktober 2023 vor Augen, dass eine beständige Erfahrung der „Besonderung“ zum Alltag von jüdischen Berlinern gehörte (Reimer-Gordinskaya & Tzschiesche 2021). Auf diese europaweit bestehende Forschungslücke wurde jüngst hingewiesen (Kahn-Harris & Boyd 2023), wir sehen sie in unserer Erhebung bestätigt. Mehr noch: Bleibendes „Desiderat“ sind „Studien, die theoretische und methodische Ansätze sozialwissenschaftlicher Antisemitismusforschung verbinden.“ (Königseder 2017, 17, Herv. Verf.) und die Auswirkungen von Antisemitismus auf Juden sowie deren Perspektiven auf Antisemitismus einbeziehen (Chernivsky & Wiegemann 2017). Eine aktuelle Ausnahme ist der Berlin-Monitor mit seiner Verbindung von Repräsentativerhebung, qualitativer Gruppendiskussion und subjektwissenschaftlicher Forschung (Pickel et al. 2022). Letztere mündete in eine empirisch fundierte Theorie zur Dynamik von Alltagsantisemitismus in der Berliner Zivilgesellschaft aus jüdischen Perspektiven (Reimer-Gordinskaya & Tzschiesche 2021 u. 2022).
Jüdinnen und Juden werden in Deutschland markiert und zu „Anderen“ gemacht
Alltagsantisemitismus vollzieht sich demnach in einer postnazistischen Gesellschaft. Dies geht mit grundlegenden Diskrepanzen der konjunktiven Erfahrungsräume (Mannheim 1980, 220) von Juden und nicht-jüdischer Mehrheitsgesellschaft einher, etwa mit Blick auf die familiär-persönliche Bedeutsamkeit der Shoa und von Antisemitismus als “alltagsprägende Erfahrung“ (Poensgen 2021) einerseits, die Verortung des Holocaust als Ereignis der Vergangenheit und die Ausblendung von gegenwärtigem Antisemitismus andererseits. Die in dieser Gesellschaft ausgebildete Dominanzkultur geht mit vielfachen Praktiken der Besonderung einher, durch die Juden in Deutschland markiert und zu Anderen gemacht werden. All dies vollzieht sich in sozialen Beziehungen mit Bekannten, Vorgesetzten, Bündnispartnern oder Unbekannten in privaten, beruflichen oder öffentlichen Settings. In diesen prekären Normalzustand des Alltagslebens brechen, meist überraschend, antisemitisch motivierte verbale und handgreifliche Aggressionen ein, deren legimitatorische Semantik aus dem gesamten Arsenal des Antijudaismus und Antisemitismus schöpft; als besonders markant und belastend wurde dabei der Israel-Blick der Mehrheitsgesellschaft beschrieben, in dem Juden und/oder der jüdische Staat zu Projektionsflächen von Ressentiments werden (Klug 2013).
So unterschiedlich wie die Zugehörigkeiten der individuellen Urheber antisemitischer Aggressionen sind, können es auch die politischen Affiliationen von Tätern sein, die die jüdische Gemeinschaft mit Terror bedrohen: „ob sie von Nazis kommen oder ob sie doch vom islamistischen Terror kommen. Oder ob sie von Palästinenser:innen kommen. Oder ob sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Wahn der Befreiung Palästinas kommen“, könne man nicht wissen, so eine der Befragten. Das damals erst kurz zurückliegende rechtsextreme Yom Kippur-Attentat von Halle am 9. Oktober 2019 hatte zu Versuchen der Solidarisierung zwischen Betroffenen antisemitischer und rassistischer Gewalt geführt, die Teil einer Debatte um theoretische und praktische Grundlagen von Allianzen (Mendel & Messerschmidt 2017; Jalta 2018) bis in den Sommer 2023 (z.B. StreitRaum) waren.
Die genozidalen Simchat Tora-Massaker und Geiselnahmen sowie die sprunghafte Zunahme und Verschärfung von antisemitischer Aggression und Bedrohung in Deutschland (Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. 2023) haben erwartbare Empathie und Solidarisierung mit den jüdischen Opfern und Betroffenen in Israel und Deutschland gerade in linken und linksliberalen Milieus indes spürbar vermissen lassen (Illouz 2023; Benhabib 2023; Mendel 2023). Mehr noch: Die Reaktionen eines bedeutsamen Teils der Linken i.w.S. auf den 7. Oktober dürften die Risse vertieft haben, die die Normalisierung anti-israelischer Positionen und die Leugnung von israelbezogenem Antisemitismus in linken Milieus aus jüdischen und antisemitismuskritischen Perspektiven verursacht hatten (Coffey & Laumann 2021; Potter & Lauer 2023). Denn sie verliefen teils unwidersprochen auch in den Bahnen des israelbezogenen Antisemitismus, dessen Muster sich in anti-imperialistischen und identitätspolitischen Varianten u.a. daran ablesen lässt, dass reale Gegebenheiten, Zusammenhänge und Ambivalenzen des Nahostkonflikts in manichäischen und dualistischen Konstruktionen untergehen, die mit Opfer-Täter -Umkehr verknüpft und antisemitischen Tropen versetzt sein können (Friesel & Reinharz 2013; Holz & Haury 2013). Sollten diese Muster dominant werden, könnte der 7. Oktober eine ähnliche Bedeutung für die Entwicklung der Linken haben wie der Sechstagekrieg 1967 (Kloke 2010). In dessen Folge wurde ein Antizionismus in der Linken bestimmend, der den Antisemitismus in sich trug wie die Wolke das Gewitter (Amery 1969), bis hin zum linken Terror gegen Juden (Steinke 2020, 65ff). Es bedarf dringend auch antisemitismuskritischer Forschung und darauf basierter Interventionen, um dieser womöglich einsetzenden Dynamik entgegen zu wirken.
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