Irina Alkhovka würdigt die Frauen früherer Generationen wie ihre einstige Universitätsprofessorin und die Stifterin des Preises, Anne Klein. Sie sagt, deren Unbeugsamkeit und Mut seien für alle und zu jeder Zeit ein Leuchtfeuer.

Verehrte Anwesende, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, liebe Schwestern!
Zuallererst möchte ich meinen lieben Kolleginnen und Kollegen von der Belarusischen Gemeinschaft RAZAM von ganzem Herzen dafür danken, dass sie mich für diesen Preis nominiert und stets an mich geglaubt haben. Mein aufrichtiger Dank gilt auch der Heinrich-Böll-Stiftung für die Würdigung meines Beitrags zur Stärkung der Rechte von Frauen in Belarus.
Ich stehe heute hier vor Ihnen in voller Demut und fühle mich zutiefst geehrt. Aber noch mehr als das fühle ich mich beflügelt durch die überwältigende Unterstützung und Solidarität so vieler außergewöhnlicher Frauen, die hinter mir stehen. Ich möchte jeder einzelnen von ihnen meinen aufrichtigen Dank aussprechen.
Diese Auszeichnung ist für mich nicht nur ein Zeichen der Anerkennung, sondern auch eine Gelegenheit, über eine nunmehr fast dreißigjährige Reise nachzudenken. Es ist hochgradig symbolisch, dass dieser Preis im Jahr 2025 an drei Frauen verliehen wird, die jeweils für eine andere Generation von Aktivistinnen stehen, die sich für Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte in Belarus einsetzen. Das erfüllt mich mit Hoffnung und bestärkt mich in der Überzeugung, dass wir, auch wenn wir momentan nicht in Belarus tätig sein können, unserem Land weiterhin dienen und die Interessen der Frauen fortwährend stärken. Unsere Methoden mögen unterschiedlich sein, unsere Inspirationsquellen mögen variieren, doch uns eint ein übergeordnetes Ziel: den Stimmen der belarusischen Frauen mehr Gewicht zu verleihen, dafür zu sorgen, dass ihre Interessen vertreten werden, und die Rechte der Frauen fest in den demokratischen Wertekontext einzubetten.
Inspiriert vom Konzept der Frauensolidarität
Wenn es um die Generationen von Frauenaktivistinnen geht, möchte ich auch die mutigen Frauen würdigen, die mich in den 1990er Jahren in diese Bewegung gebracht haben. Während sie nie die Chance hatten, Preise oder öffentliche Anerkennung für ihre Tätigkeit zu bekommen, sind ihre Beiträge von unschätzbarem Wert und können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Erinnern wir uns an diese Zeit - die frühen 1990er Jahre, den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Öffnung der Grenzen und den Aufbruch in eine neue Welt voller Möglichkeiten und Ideen. Meine Universitätsprofessorin fragte mich damals, ob ich einer Frauengruppe beitreten wolle. Sie war zu jener Zeit 55 Jahre alt - das damalige Renteneintrittsalter für Frauen. Ihr Vater hatte sie nach Stalins Tochter, Swetlana, benannt, und sie hatte sich ihre akademische Laufbahn während der Sowjetzeit aufgebaut. Sie konnte kein Englisch, hatte keine Erfahrung im Projektmanagement, keinen eigenen Computer und keinen Internetzugang. Aber sie hatte grenzenlosen Enthusiasmus und die großmütigsten Absichten - die Welt und das Leben von Frauen zu verändern.
Wie hat sie das geschafft? Wie hat sie, die aus einer überaus konservativen, vom sowjetischen System geprägten Familie stammte, den Mut gefunden, auszubrechen, Risiken einzugehen und ihre Studierenden - mich eingeschlossen - mit dem Konzept der Frauensolidarität zu inspirieren? Man braucht ein unnachgiebiges Gemüt und einen wirklich freien Geist, um ein System herauszufordern, in dem man sein ganzes Leben verbracht hat. Ich bewundere sie sehr, und ich verehre und erinnere mich an all die außergewöhnlichen Frauen vor mir, die mir beigebracht haben, dass es nie zu spät ist, sein Leben zu verändern, und dass man seine Träume in jedem Alter verwirklichen kann.
Die Bewahrung des Vermächtnisses von Anne Klein ist eine kraftvolle Gelegenheit, all die Frauen früherer Generationen zu ehren, die den Weg für andere geebnet haben, so wie Anne Klein es getan hat - sie hat sich für die Rechte der Frauen eingesetzt und dafür gesorgt, dass ihre Stimmen in den politischen Diskurs einbezogen wurden. Ihre Unbeugsamkeit und ihr Mut sind für uns alle zu jeder Zeit ein Leuchtfeuer.
Den Schmerz und die Tränen in Gesetze und Strategien umwandelnIn diesem Zusammenhang möchte ich eine weitere Geschichte aus den Anfängen meiner Tätigkeit im Bereich der Menschenrechte von Frauen erzählen. Im Jahr 2000 wandte sich eine deutsche Nichtregierungsorganisation an mich und bat mich um Hilfe für eine belarusische Frau, die nach Deutschland verschleppt worden war. Sie war in einem Bordell sexuell ausgebeutet worden und hatte vor Gericht gegen die Täter ausgesagt. Trotzdem wurde ihr die Verlängerung ihres Aufenthaltsstatus verweigert, und sie musste nach über einem Jahr in Deutschland nach Belarus zurückkehren. Damals hatte ich lediglich ein theoretisches Verständnis von Menschenhandel; ich hatte nie eine Überlebende im wirklichen Leben getroffen. Aber ich wollte helfen. Ich wollte die Welt verändern.
Ich fuhr zum Flughafen von Minsk, einem riesigen, kalten Gebäude aus Beton und Glas. Ich war damals 28 Jahre alt, fühlte mich klein und unsicher, aber ich hatte einen wichtigen Auftrag. Das Flugzeug landete, und als die Leute in die Ankunftshalle liefen, fiel mir eine junge Frau mit zwei großen Koffern auf. Sie war elegant gekleidet, trug einen Seidenschal und hielt eine Cola-Dose in der Hand. Mein erster Gedanke war: „Das kann sie nicht sein". Ich dachte, ich hätte keinerlei Erwartungen, da ich ja noch nie eine Überlebende des Menschenhandels kennengelernt hatte. Dennoch hatte ich wohl unbewusst eine Frau erwartet, die sichtlich gebrochen ist, weint, auf den Knien liegt und um Hilfe fleht. Und dann komme ich, rette sie, und wir werden gemeinsam Kumbaya singen. Aber nichts dergleichen. Sie war fragil und dennoch stark, mit hoch erhobenem Haupt und doch misstrauisch mir gegenüber. Ihre Koffer waren voll mit gebrauchter Kleidung aus dem Frauenhaus und bescheidenen Geschenken für ihr Kind. Sogar ihre Unterwäsche hatte sie vom Frauenhaus bekommen. Und dennoch - trotz allem, was sie durchgemacht hatte – hatte sie sich ihre Würde bewahrt! Ich erinnere mich heute noch an jedes einzelne Detail dieses Bildes.
Das war eine der tiefgründigsten Lektionen, die ich gelernt habe: keine Erwartungen zu haben, mit Respekt zuzuhören, zu begreifen und zu akzeptieren, nicht zu urteilen und nicht zu versuchen zu „retten", sondern die Frauen ihre Geschichten auf ihre eigene Weise und mit ihren eigenen Worten erzählen zu lassen. Den Menschen vor dem Verfahren und die Menschenwürde vor dem Trauma zu sehen - nur so können wir die Frauen dazu befähigen, ihre Stärke und Würde zurückzugewinnen und die Kontrolle über ihr eigenes Leben wiederzuerlangen.
Deshalb bin ich den Frauen, die mir beigebracht haben, wie ich helfen kann, zutiefst dankbar, und ich versuche, dieses unschätzbare Wissen an die neuen Generationen von Frauenrechtsaktivistinnen weiterzugeben.
Erfolge, ihre Zerstörung und ein Weitermachen im Exil
Im Laufe der Jahre haben mein Team und ich den Schmerz und die Tränen der Frauen in Gesetze, Strategien und Dienstleistungen umgewandelt. Im Jahr 2000, nur vier Monate, nachdem La Strada Belarus den ersten Runden Tisch zum Thema Menschenhandel organisiert hatte, bekam ich einen Anruf vom Innenministerium und mir wurde mitgeteilt, dass das Strafgesetzbuch um eine Bestimmung zur Bekämpfung des Menschenhandels ergänzt werden würde. Ein Jahr später wurde eine Beratungshotline für sichere Migration eingerichtet. Im Jahr 2004 eröffneten wir eine Anlaufstelle für Überlebende des Menschenhandels. Im Jahr 2012 richtete unser Team eine nationale Hotline für Überlebende häuslicher Gewalt ein, die in neun Jahren mehr als 15.000 Anrufe entgegennahm. Und jedes Mal, wenn ich nach anstrengenden behördlichen Sitzungen müde und frustriert ins Büro zurückkehrte, sah ich, wie unsere Mitarbeitenden unermüdlich zum Telefonhörer griffen. Und ich sagte mir dann: Du darfst nicht aufgeben.
Ich dachte, der dunkelste Moment wäre 2018 gekommen, als die Regierung den Gesetzentwurf zur Prävention häuslicher Gewalt kippte. Aber dann, im Jahr 2021, wurde ich ins Exil gezwungen.
Das Exil hat bis heute tiefes Leid mit sich gebracht - den Schmerz über die zerrissene Familie, aber auch die Sorge um die Frauen in Belarus, die weiterhin unter häuslicher Gewalt leiden und nur begrenzten Zugang zu geschlechtersensibler und vorurteilsfreier Unterstützung haben. Es erfüllt mich mit Schmerz, dass so vieles von dem, was meine Kolleginnen und ich im Laufe der Jahre aufgebaut haben, über Nacht zerstört wurde.
Aber nichts kann meine Werte, meine Überzeugungen oder mein Engagement für die Rechte der Frauen erschüttern. Das ist meine Superkraft! Es ist die Superkraft so vieler belarusischer Frauen - sowohl im Land als auch im Exil - zu überleben, unseren Glauben und unsere Widerstandsfähigkeit zu bewahren und jeden Tag kleine, aber bedeutende Schritte nach vorn zu machen. Auf die Frage, worauf ich nach Jahren des Engagements in der Frauenbewegung am stolzesten bin, antworte ich ohne zu zögern: eine neue Generation von Frauen zu inspirieren, sich der Bewegung anzuschließen. Und obwohl ich jetzt zum geschätzten Club der „Gründungsgroßmütter" von La Strada gehöre, habe ich nicht die Absicht, mich zurückzuziehen.
Die Stimmen der Frauen gehören in die Politik
Lassen Sie uns heute gemeinsam die Frauen aller Generationen feiern - die Pionierinnen und ihre Nachfolgerinnen. Wir sind unterschiedlich, aber in diesen dunklen Zeiten sollten wir uns auf das konzentrieren, was uns eint, und nicht auf das, was uns trennt. Die heftige Gegenreaktion gegen die Gleichstellung der Geschlechter erschwert das Vorankommen; Rückschritte zu verhindern, ist aber auch schon eine Errungenschaft.
Und meine letzte Botschaft richtet sich nicht nur an die belarusische Regierung, sondern auch an die demokratischen Kräfte im Exil, die das Thema Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte häufig außer Acht lassen.
Es gibt keine Demokratie ohne die Stimmen der Frauen in der Politik!
Es gibt keinen gesellschaftlichen Wohlstand, wenn Frauen keinen Zugang zu gut bezahlten Arbeitsplätzen haben!
Es gibt keine nationale Sicherheit ohne Gesetze, die Frauen vor Gewalt schützen!
Und es gibt keinen Frieden ohne Frauen am Verhandlungstisch!
Ich danke Ihnen!
» Rede auf Belorusisch (PDF)