
Die Rechte der Natur erfordern einen interkulturellen Dialog zwischen verschiedenen Sichtweisen auf die Natur. Vonseiten indigener Gruppen existieren zahlreiche Bemühungen, das Konzept mit Leben zu füllen. Die Weltbilder und Organisationsstrukturen, die diesen zugrundliegen, unterscheiden sich oft grundsätzlich von denjenigen, auf denen das jeweilige Rechtssystem beruht.

Besonders nachhallend und weitreichend ist der Vorschlag des Pueblo Originario Kichwa de Sarayaku (indigene Kichwa von Sarayaku). Sie schlagen vor, ihr Territorium in der ecuadorianischen Amazonasregion gestützt auf die Rechte der Natur als „Kawsak Sacha“ (Lebendiger Wald) anzuerkennen – als „ein lebendiges und mit Bewusstsein begabtes Wesen, das Träger von Rechten ist“. Sarayaku verfügt über eigene Verwaltungsstrukturen und Vorstellungen von Gerechtigkeit. Eine solche Autonomie indigener Völker und Nationen ist innerhalb des ecuadorianischen Nationalstaates durch die Verfassung anerkannt.
Die Erklärung des Lebendigen Waldes (Kawsak Sacha)
Sarayaku richtet sich mit seinem Vorschlag vor allem gegen die Ausbeutung der Natur durch Extraktivismus und Raubbau am Wald. Aber es geht auch darum, das Konzept des lebendigen Waldes neu zu deuten und Regeln für die Interaktion und das Zusammenleben mit dem Wald zu etablieren.
Die rechtliche Anerkennung des Lebendigen Waldes erfolgt durch die Declaratoria de la Selva Viviente ("Erklärung des Lebendigen Waldes"), die von den Menschen von Sarayaku kollektiv und mit viel Kreativität verfasst wurde. Dafür wurde durchgeführt, was als eine sogenannte ‚juristische‘ Minga interpretiert werden kann. Minga ist eine Form der kollektiven Arbeit aus dem Anden- und Amazonsraum, in der häufig ein ganzes Dorf einbezogen wird und für die Gemeinschaft wichtige Aufgaben verrichtet werden (z.B. Wegebau, oder die Kultivierung von Maniok (Manihot esculenta). Eine minga für die Kultivierung von Maniok zeigt den Respekt für Lebenszyklen und die eigenen Gesetze der Maniok.
Im Rahmen dieser juristischen Minga wurde nicht nur eine Form der Wald-Verfassung ausgearbeitet, die die „Erklärung des Lebendigen Waldes“ und weitere Vorschriften beinhaltet, wie beispielsweise die sogenannten „Normen des Zusammenlebens“, u.a. Regeln zur Jagd oder zur Fischerei. Eine juristische Minga umfasst auch die kollektive Reflexion dieser juristischen Instrumente in Versammlungen, und das Teilen von Perspektiven in corazonares (Denken ‚vom Herzen her‘).
Wie Hilda Santi, eine lidereza (Führungspersönlichkeit) aus Sarayaku, teilte:
„Wir benutzen in der Erklärung die Sprache des Staates und des Rechts, um die Rechte geltend zu machen, die wir gemäß der ecuadorianischen Verfassung haben (kollektive Rechte und die Rechte der Natur).“
Gleichzeitig kann der Lebendige Wald selbst als Quelle des Rechts interpretiert werden (García Ruales 2024). Den Wald als solche anzusehen, bedeutet den Lebendigen Wald als normatives Netzwerk und die Normativität intrinsischer autopoetischer Prozesse anzuerkennen. In diesem Netzwerk gibt es Regeln für das Verhalten der Menschen und aller anderen Wesen, die im Wald wohnen. In Art. 3 der Erklärung wird ein Wald-Pluriversum beschrieben, das aus sechs verschiedenen Welten besteht: der mineralischen, tierischen, vegetalen, kosmischen, spirituellen und menschlichen Welt. Durch das Zusammenleben aller Einheiten im Wald lernen die Sarayaku, wie die Menschen mit dem Wald koexistieren können.
Kuraka Yashinku, ein gesetzlicher Vormund, der verschiedenen Welten angehört, organisiert und schützt die Affen. Kuraka Yashinku ist ein Anführer, verantwortlich für die Mitregierung (co-gobernanza), wie es Narciza Gualinga teilt. Er hat gelehrt, wie viele Affen gejagt werden sollten. Kuraka kann als traditionelle Autorität übersetzt werden. Tiere, Pflanzen und supays (kosmische Wesen) haben ihre eigenen Kurakas: In diesen Narrativen werden die Wesen des Waldes selbst zu Gesetzgeber:innen. So sind etwa auch organisatorische Strukturen in Sarayaku von Tieren inspiriert.
Als die juristische Minga zur Erstellung der Erklärung des Lebendigen Waldes durchgeführt wurde, war es unmöglich, alle Wesen, die zum Kosmos des Waldes gehören, zu benennen. Nur die prominentesten, wie Amazanga, „das respektierteste aller Wesen im Wald“, oder Nunkuli, die weibliche Kraft, wurden explizit in der Deklaration genannt. Der interkulturelle Dialog, den Sarayaku durch die Erklärung des Lebendigen Waldes weiterführen möchte, ist zweigeteilt. Zum einen wird der Wald, der mit all seinen Bewohner:innen einen von einer Komplexität an Regeln geprägten Kosmos darstellt, in geschriebene Worte übersetzt und so für die Menschen in Sarayaku zugänglich gemacht. Die Erklärung ist daher nicht nur als Text zu den Rechten der Natur zu lesen, sondern geht darüber hinaus:
Sie ist zugleich ein Vorschlag für das Zusammenleben in Sarayaku. Sie soll helfen, das Recht des Waldes zu respektieren und anzuwenden, mit dem Ziel, ein gutes Leben zu führen.
Zugleich muss die Textualität des geschriebenen Gesetzes, die in der Erklärung aufscheint, auch für Menschen außerhalb Sarayakus verständlich sein, um diesem Ausdruck der Rechte der Natur Leben einzuhauchen Er zählt Argumente dafür auf, dass der Lebendige Wald Träger von Rechten sein sollte. Er ist ein juristisches Instrument von Sarayaku, eine Kategorie, die aus den Wissensformen Sarayakus selbst heraus formuliert wurde, und auf Papier in geschriebener Form verfasst wurde, um das Gesetz des Lebendigen Waldes zu vermitteln.
Anwendung des ‚Waldrechts‘
Wie genau die Erklärung des Lebendigen Waldes umgesetzt wird, ist – wie wahrscheinlich bei jedem Gesetz – umstritten und einem stetigen Wandel unterworfen. Die menschliche Bevölkerung in Sarayaku nimmt beispielsweise zu, während Wildtiere und andere Einheiten weniger werden. Daher kann seltener als zuvor „ausreichend“ gejagt werden (wobei sich auch das, was unter „ausreichend“ verstanden wird, im Laufe der Zeit verändert hat).
Das betrifft auf die Jagdpraktiken. Die menschlichen Bewohner:innen von Sarayaku müssen heutzutage tiefer in den Wald gehen, um erfolgreich jagen zu können. Deshalb wurden Praktiken, die als "gute Jagd" bezeichnet werden, eingeführt. Sie beruhen auf verschiedenen Strategien, einschließlich des Dialogs mit „externem“ Wissen. Sogenannte Kaskirunas – Hüter:innen des Lebendigen Waldes, die den Zustand des Waldes ständig überwachen – legen nun fest, wo Chakras (Anbauflächen in einem traditionellen Rotationssystem) angelegt werden. Verbote betreffen beispielsweise die Jagd von Tapiren (Tapirus terrestris) sowie von Tieren, die in Herden oder mit Jungtieren angetroffen werden, oder den Fischfang mit barbasco (Lonchocarpus utilis), einem giftigen pflanzlichen Stoff. Darüber hinaus sieht das Gesetz des Lebendigen Waldes auch den Verzicht auf den Verkauf von Wildfleisch vor. Darüber hinaus gibt es auch bei traditionellen Festen, wie dem Festival der Pacha Mama, Regeln dafür, wie viel gejagt werden darf.
Während dieses Festivalsfeiern Sarayaku die Einheit der Pacha Mama und gedenken der Anerkennung von Eigentumsrechten für ihr Land im Jahr 1992. Dies hatte gewiss einen Einfluss auf die Anerkennung der Rechte der Natur in Ecuador, für die eine starke Indigenen-Bewegung eine wichtige Triebfeder war.
Während dieses Festes wird auch am Konzept des Lebendigen Waldes gearbeitet, dieses wird hier stetig neu bewertet und genährt durch Praktiken wie Performances, Tänze und traditionelle Wettbewerbe
Jede Runa (Person aus Sarayaku) hat ihre eigene Art, das Recht des Lebendigen Waldes, Kawsak Sacha, anzuwenden. Jede Person tritt auf ihre Weise mit den Wesen des Waldes in Verbindung. Trotzdem hat Sarayaku auf kollektiver Ebene Strategien entwickelt, um die Deklaration und ihren Kampf für den Lebendigen Wald voranzubringen. Beispielsweise haben sie an den Klimakonferenzen in Bonn (2017) und Paris (2015) teilgenommen, zu der sie sogar ein Kolibri-Kanu (Kindy-Challwa) mitbrachten. 2022 fand eine Amazonas-Klimakonferenz auf ihrem Territorium statt. Bei dieser Zusammenkunft kamen Vertreter:innen verschiedener Gruppen zusammen, um Wissen zu teilen und gemeinsam zu agieren.
Sarayaku unterbreitet mit der Kategorie des Lebendigen Waldes einen Vorschlag für das Leben auf der Erde für alle Gemeinschaften der Welt, der in einer globalen Minga umgesetzt werden soll. Dieser Vorschlag basiert auf den Rechten der Natur sowie kollektiven Rechten Indigener Gruppen und Nationen, sowie auf dem Lebendigen Wald selbst. Er ruft auf zur Entwicklung eigener rechtlicher Instrumente für den Umgang und das Zusammenleben mit der Natur.
Denn im Lebendigen Wald des Amazonas erklingen nicht nur die Rufe der Frösche wie Unkulu. Wir finden dort auch Regenameisen, Sonnenameisen und den Tukan (Ramphastos tucanus) mit ihrem Gesang. Die Wesen des Waldes singen im Territorium – und diese Gesänge sind in der ‚Erklärung des Lebendigen Waldes‘ festgehalten. Das Singen ist ein Ausdruck ihrer Existenz. Diese Existenz und dieses Singen werden von den Rechten der Natur in der ecuadorianischen Verfassung geschützt.
Dies ist die angepasste Version eines Buchkapitels im 2023 erschienen Sammelband Rechte für Flüsse, Berge und Wälder, hg. von Matthias Kramm. München: Oekom Verlag.
Aktuelle Entwicklungen um die Rechte der Natur sind auf der Open-Access-Plattform des EcoJurisprudence Monitor zu finden.
Links & Literatur
- Pueblo Originario Kichwa de Sarayaku
- García Ruales, J., & Y. V. Gualinga (2024). “A Well-braided (Knowledge) Braid: Lessons learned from the Kawsak Sacha and the Forest Beings to Europe”. In Rights of Nature in Europe: Encounters and Visions, edited by J. García Ruales et al. London: Routledge: 27-44.
- García Ruales, J., and A. Gutmann. “Rechte der Natur in Lateinamerika.” In Rechte für Flüsse, Berge und Wälder, edited by Matthias Kramm, München: Oekom Verlag, 2023, 28-48.
- García Ruales, J. (2024): “Forest moralities, Sacha Runakuna and kindred knowledge: Kawsak Sacha as a law.” The International Journal of Human Rights: 1-25.
- Jenny García Ruales, Luis Eslava and Viviana Morales Naranjo (2025). "Legal "Heartfelt Thinking!: How "Mingas" Help Evolving the Law." Verfassungsblog, 2024.
- Matthias Kramm (Hg., 2023). Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. München: Oekom Verlag.