5. Europäisches Geschichtsforum

Erinnerungen an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert

Bild zur Geschichte von Flucht und Vertreibung von Arinda Craciun

Am 23. und 24. Mai fand das 5. Europäische Geschichtsforum in der Berliner Heinrich-Böll-Stiftung statt. Experten aus elf verschiedenen Ländern diskutierten gemeinsam über Flucht und Vertreibung im 20. und 21. Jahrhundert. Ein Überblick.

Europäische Erinnerungskultur – wo steht die Idee heute?

Die Idee von einer gemeinsamen Europäisierung der Erinnerungskultur habe während des ersten Geschichtsforums vor fünf Jahren noch realistisch geklungen, wenn auch anspruchsvoll, sagte Walter Kaufmann, Leiter des Referats Ost- und Südosteuropa der Böll-Stiftung während der Eröffnung. Beide Veranstaltungspartner, die Heinrich-Böll-Stiftung sowie das Wissenschaftliche Informationszentrum Memorial in Moskau, hielten an dem Bestreben, eine pluralistische Identität und Erinnerungskultur in Europa zu fördern, fest. „Das Zusammenwachsen Europas nach Ende des Kalten Krieges hat zurecht viele Hoffnungen genährt, das auch die Mauern zwischen den Geschichtsbildern und Interpretationen mit der Zeit fallen werden“, sagte Walter Kaufmann. „Hoffnungen, dass wir vor allem bei dem Blick auf das europäische 20. Jahrhundert ein gemeinsames Geschichtsverständnis entwickeln können, das an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die des Stalinismus als Höhepunkte von Gewaltherrschaft und damit als negative Bezugspunkte erinnert und sie erforscht, ohne sie gegeneinander aufzurechnen.“ Heute, mit Blick auf die gegenwärtige Flüchtlingskrise, dem Krieg im Osten der Ukraine oder dem Erstarken der nationalistischen Stimmen auf dem gesamten Kontinent, klinge die Rede von einer gemeinsamen europäischen Identität und einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur allerdings beinahe utopisch, so der Referatsleiter.



Auch aus russischer Perspektive ist die Idee einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur in weite Ferne gerückt. Das machte Arsenij Roginskij, Mitbegründer von Memorial, in seinem Beitrag deutlich. „Wir leben heute in einer sehr schwierigen Situation“, sagte er, „in einer Zeit, in der die Geschichte zur Politik geworden ist.“ Der stalinistische Terror sei bis heute nicht aufgearbeitet worden, der Zweite Weltkrieg und die Zeit des Kalten Krieges werde pauschalisiert und in Schwarz-Weiß-Gegensätzen dargestellt. Im Land werde der Kriegs- und Siegeskult genährt. Alles in Allem handle es sich um eine dramatische Situation, in der die unbewältigte Vergangenheit vor sich hin gäre. „Was sollen wir tun?“, fragte Arsenij Roginskij. Er lieferte drei Ansätze zur Aufarbeitung von Geschichte, die im Laufe des Forums immer wieder zur Sprache kamen: 1. die Opfer von Terror und Deportation aus ihrer Anonymität herausholen, indem sie mit Namen und Fotos in Erinnerungsbüchern dokumentiert werden; 2. einen staatlichen Rechtsakt einfordern, in dem die Verbrechen offiziell als solche anerkannt werden; 3. die Erinnerungen und Erfahrungen der Zwangsumgesiedelten durch Befragungen vor Ort erforschen.

Ein neues Narrativ für ein neues Europa

Dass Europa heute vor einer großen, historischen Herausforderung stehe, machte die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in ihrem Einführungsvortrag deutlich. Diese Herausforderung liege einerseits darin, ein neues Narrativ im Hinblick auf die Geschichte von Flucht und Vertreibung des 20. Jahrhunderts zu finden. Eines, das aus dem Kontext nationalpolitischer Instrumentalisierungen losgelöst werde; das von den revanchistischen und ressentimentbeladenen Affekten befreit werde, mit denen es im Kalten Krieg aufgeladen worden war; das nicht als Gegennarrativ zur Holocausterinnerung aufgebaut oder wahrgenommen werde. Eines, in dem die verschiedenen Erinnerungen an Flucht und Vertreibung als Teile einer gesamteuropäischen Migrationsgeschichte erzählt werden.

Dieses neue Narrativ erfordere andererseits ein neues Leitbild der EU. Der Diskurs darüber habe bereits begonnen. Das rechte politische Spektrum wolle zurück in die Vergangenheit des Nationalismus der 1950er-Jahre. „Die Einbunkerung in einer nostalgischen nationalen Vergangenheit ist aber keine Lösung, denn so einfach lässt sich die Uhr der Geschichte nicht zurückdrehen“, sagte Aleida Assmann. „Sie lässt sich schon deshalb nicht zurückstellen, weil die europäische Erfolgsgeschichte historische, politische und kulturelle Errungenschaften mit sich gebracht hat, die irreversibel, ich wiederhole, irreversibel sind, auch wenn man versucht, sie rückgängig zu machen.“

Das neue Leitbild der EU heißt, den „europäischen Traum“ von Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten wiederzugewinnen und zu bestätigen. „Statt sich angesichts der neuen Herausforderungen von Europa abzuwenden, ist das Gebot der Stunde genau das Umgekehrte: die Stärkung Europas als einer auf humane Prinzipien gegründeten Solidargemeinschaft.“ Dieses Projekt Europa sei nur zu schaffen, wenn alle an einem Strang ziehen: „neben Politikern und Beamten auch die Bürger der Gesellschaft, neben der Aufnahmegesellschaft auch die Flüchtlinge, neben Deutschland auch andere europäische Staaten“. „Wir alle tragen die Verantwortung dafür, wie sie [die unabgeschlossene Geschichte Europas] erzählt wird.“

Erinnerung an Zwangsmigration in Ost- und Südosteuropa

Nach Aleida Assmanns appellierenden Worten folgte das erste Diskussionsforum. Welche Erinnerungen in Bezug auf Flucht und Vertreibung sind lebendig, welche werden gefördert, welche eher verdrängt? Diesen Fragestellungen widmeten sich Wissenschaftler und Aktivisten aus der Ukraine, Bosnien-Herzegowina und Russland. Es folgten sehr unterschiedliche Fallbeispiele.

Den Auftakt machte der in Kiev und Berlin lebende Historiker Andrii Portnov mit seinem Beitrag über die ukrainisch-polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er erinnerte an einige einschneidende Ereignisse: einerseits an den polnisch-ukrainischen Krieg von 1918, andererseits an das von der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) initiierte Massaker von Wolhynien von 1943, dem etwa 60 000 Polen zum Opfer fielen und das heute von polnischer Seite als Genozid bezeichnet werde. In der Ukraine werde das Thema hingegen weitgehend ausgeblendet und höchstens als Tragödie bezeichnet.

Weiterhin erwähnte er die Zwangsumsiedlung von Ukrainern nach Westpolen 1947 sowie die gegenwärtige ukrainische Migration gen Polen aus wirtschaftlichen Gründen. Die polnische Regierung bezeichne diese Menschen als Flüchtlinge, um gegen die EU-Flüchtlingsquote zu argumentieren. Nach dem Motto: Wir können keine Syrer aufnehmen, wir haben schon unsere eigenen Flüchtlinge. Weiterhin beschrieb Andrii Portnov die dramatische Lage der ukrainischen Binnenflüchtlinge. 1,5 bis zwei Millionen seien heute aufgrund des Krieges im Osten sowie der Krimkrise innerhalb des Landes auf der Flucht.

Trotz der komplexen Geschichte von Flucht und Vertreibung, die bis in die Gegenwart reicht, würden beide Länder für die Ereignisse wenig Verantwortung übernehmen. Darüber hinaus fehle es oftmals an Kontextualisierung.

Das zweite Fallbeispiel von Belma Bećirbašić aus Sarajevo befasste sich mit dem Thema der sexualisierten Gewalt als Begleiterscheinung oder Mittel der Vertreibung. Die Journalistin blickte auf die systematischen Massenvergewaltigungen während des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995. Die weiblichen Körper seien misshandelt worden, um den Gegner zu demoralisieren, so Belma Bećirbašić. Vergewaltigungen würden bis heute als Kriegswaffe eingesetzt, ob im Sudan, in Syrien oder im Kongo. Die internationale Gemeinschaft erkenne sie als solche jedoch immer noch nicht an.

Das Schicksal der etwa 20 000 Frauen und Mädchen sei bis heute unaufgeklärt – trotz des Kunarac-Urteils, das das UNO-Kriegsverbrechertribunal im Jahr 2001 gefällt hatte und in dem die Vergewaltigungen als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt wurden. Dennoch blieb ein Großteil der Täter bis heute unbestraft. Die Frauen würden von der Gesellschaft weiterhin diskriminiert werden. Kompensationen von der Regierung gebe es keine. Vielmehr werde das Thema von der Öffentlichkeit banalisiert.

Ungeachtet des schwierigen Gesamtbildes gebe es positive Lichtblicke. So habe der Film „Grbavica“ von Jasmila Žbanić aus dem Jahr 2006, in dem ein zwölfjähriges Mädchen herausfindet, dass ihre Mutter vergewaltigt wurde und sie das Kind des Täters ist, zu vereinzelten sozialen Entschädigungen geführt.

Mit Alexander Cherkassovs Ausführungen zur Deportation der Tschetschenen und Inguschen während des Zweiten Weltkrieges folgte das dritte Fallbeispiel. An den 23. Februar 1944 erinnern Russland sowie die russische Teilrepublik Tschetschenien heute in keiner Form, konstatierte der Leiter des Menschenrechtszentrums Memorial in Moskau. Vielmehr werde unter jenem Datum der Tag des Verteidigers des Vaterlandes (bis 1991: Tag der Sowjetarmee) gefeiert. Als Volkstrauertag sei ein anderes Datum in die Geschichte der Tschetschenen eingegangen: der 10. Mai, ein Tag nach dem Todesstag des Vaters des jetzigen Präsidenten, Achmad Kadyrov, der 2004 bei einer Kundgebung zum Tag des Sieges einem Attentat zum Opfer gefallen war.

Seit 1994 erinnerte zwar im Zentrum Grosnys ein Denkmal an die Deportierten. Doch dieses ist 2014 abgerissen worden. Teile davon seien in der Nähe eines Denkmals für Polizisten, die im Zuge antiterroristischer Operationen umgekommenen sind, wieder aufgebaut worden. Der ursprüngliche Sinn der Gedenkstätte sei heute völlig verschwunden. Diejenigen, die die Geschichte der Deportierten aufarbeiten wollen, würden verfolgt und verhaftet werden, wie im Fall von Ruslan Kutaev. Eine offizielle Erinnerung an die Deportationen gebe es also nicht, doch innerhalb der betroffenen Familien werde viel darüber gesprochen.

Zur tschetschenischen Erinnerung gehörten heute neben der Zwangsmigration von 1944 der Kaukasuskrieg im 19. Jahrhundert sowie die beiden Tschetschenien-Kriege in den vergangenen 22 Jahren. „Ich befürchte, dass dieses schwere Erbe neue Krisen hervorrufen wird. Besonders dann, wenn es in Russland weder reflektiert noch besprochen wird“, sagte Alexander Cherkassov.

Der schwierige Weg der Vergebung und Aufarbeitung

Welche politischen und juristischen Wege wurden in den letzten Jahrzehnten beschritten, um die Aufarbeitung von erlittenem Unrecht, die Entschädigung von Verlusten und die notwendige Anpassung an die neue Realität in Einklang zu bringen? Diese Frage versuchte das zweite Forum anhand verschiedener Beispiele zu beantworten. Es wurde nach Georgien, auf die Krim und in den Kaukasus geblickt.

Den Anfang machten die beiden Historiker aus Tbilisi, David Jishkariani und Giorgi Sordia. Sie sprachen über das Schicksal der Mescheten, die an der georgisch-türkischen Grenze einst heimisch waren. 1937 habe Moskau eine Expedition in diese Region versandt, die die Aufgabe hatte, herauszufinden, welche Nationalitäten dort an der Grenze lebten, sagte David Jishkariani. Die Ergebnisse seien an Lavrenty Beria persönlich weitergegeben worden, der später die Stalinschen Säuberungen ausführte. Die Grenzregion sei für die Sowjet-Regierung schwierig zu fassen gewesen, so David Jishkariani. Mal seien die Menschen dort als Turkvölker, mal als Türken, dann als Aserbaidschaner bezeichnet worden. Um die Region unter Kontrolle zu bringen, seien permanent Deportationen durchgeführt worden, die bis 1944 anhielten.

Warum die Mescheten bis heute größtenteils ihrer ursprünglichen Heimat fern bleiben, darüber sprach Giorgi Sordia. Nur ein kleiner Teil sei in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Georgien zurückgekehrt, jedoch in den Westen des Landes. In die Grenzregion durften sie nicht einreisen. Tausende andere Mescheten lebten weiterhin im Ausland, darunter in Aserbaidschan, Kasachstan, Russland und seit 2004/05 auch in den USA. Ende der 1990er-Jahre wurde die georgische Regierung als Bedingung für die Aufnahme des Landes in den Europarat dazu verpflichtet, die Rückkehr der Mescheten zu ermöglichen. Doch trotz eines 2007 endlich verabschiedeten Gesetzes zur Wiedereinbürgerung der Mescheten sei seither nicht viel passiert Die Regierung unternehme viel zu wenig, um den in Georgien seit den 1990er-Jahren dominierenden ethnischen Nationalismus entgegenzutreten, der in der Ansiedlung von Nicht-Christen eine Gefahr für die Gesellschaft wittere, so Sordia.. Zwar dürften die Menschen kommen, doch bei der Integration vor Ort würden sie nicht unterstützt werden. Sie bekämen weder eine Wohnung noch eine Beratung an die Seite gestellt. Die georgische Bevölkerung werde über die historischen Zusammenhänge nicht aufgeklärt. Ein echter politischer Wille sei in der Mescheten-Frage nicht zu erkennen, weshalb die Situation im Allgemeinen kaum Grund zu Optimismus gäbe.

Über das historische Gedächtnis der Krimtataren referierte Gulnara Bekirowa. In der jüngsten Vergangenheit sei dieses Thema in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit gerückt – ob durch den Eurovision Songcontest-Beitrag von Jamala, die mit „1944“ in diesem Jahr als Gewinnerin aus dem internationalen Wettbewerb hervorgegangen ist, oder dem mehrfach ausgezeichneten Film „Chajtarma“ aus dem Jahr 2013 über die Deportation. Der Film sei heute in Russland verboten.

Seit der Annexion der Krim durch Russland gerate die ukrainische Minderheit zunehmend unter Druck, so Gulnara Bekirowa. Die alljährlichen Veranstaltungen am 18. Mai zum Gedenken an die Deportation – ein historisches Ereignis, das von der ukrainischen Regierung als Genozid anerkannt worden ist – seien verboten worden, genauso wie die Vertretungsorgane der Krimtataren. Auch Publikationen, wie ihr Buch über Mustafa Dzhemilev, veröffentlicht 2014, seien vom russischen Geheimdienst FSB auf der Krim aus dem Verkehr gezogen worden. Wortführer der Krimtataren, wie der bereits erwähnte Mustafa Dzhemilev oder Refat Tschubarov, dürften nicht mehr auf die Krim einreisen. Und, als wären all diese Entwicklungen nicht schon bedenklich genug, gehörten nun auch die unabhängigen Medien auf der Halbinsel der Vergangenheit an.

Abgeschlossen wurde die Diskussionsrunde mit zwei Beiträgen über die Erinnerungen an die Vertreibung und Ermordung serbischer wie kroatischer Zivilisten aus der Region Krajina während des Kroatienkrieges 1991 bis 1995. Über die komplexen Ereignisse berichteten Dragan Markovina, Historiker aus Split, und Vesna Teršelič, ebenfalls Historikerin und Leiterin des Zentrums für Vergangenheitsbewältigung Documenta in Zagreb.

Auch über 20 Jahre nach Ende des Krieges seien die Verbrechen nicht aufgearbeitet worden. Kroatien halte den 4. August, den Tag, an dem die Militäroffensive „Sturm“ begann, als Tag des Sieges in Erinnerung. „Im vergangenen Jahr gab es sogar eine Militärparade, was eher ungewöhnlich ist“, sagte Vesna Teršelič. Der serbischen Opfer werde offiziell nicht gedacht. Vielmehr sei die Gesellschaft bezüglich der Ereignisse tief gespalten. Es gebe jedoch auf zivilgesellschaftlicher Ebene Bestrebungen, den Opfern ein Gesicht zu geben. 500 Betroffene seien bisher im Rahmen des im Internet abrufbaren Projekts www.croatianmemories.org interviewt worden, so Teršelič.

Werden Flucht und Vertreibung Teil des europäischen Gedächtnisses?

Kann aus der Gesamtheit der Fluchterfahrungen des 20. Jahrhunderts eine neue europäische Identität erwachsen? Mit dieser Frage befasste sich das dritte Diskussionsforum, dem Małgorzata Ruchniewicz (Historikerin an der Universität Wrocław), Jaroslav Šonka (Publizist aus Prag) und Stefan Troebst (Historiker an der Universität Leipzig) beiwohnten.

Letzterer erläuterte, warum er in der EU-Geschichtspolitik derzeit nicht an eine Herausbildung eines europäischen Gedächtnisses glaube. Er beobachte vielmehr die Herausbildung eines mitteleuropäischen Gedächtnisses, dessen treibende Kraft die deutsch-polnische Seite sei. Dieser Motor habe unter anderem eine Resolution im Europäischen Parlament auf den Weg gebracht. Dessen kleinster politischer Nenner sei, dass der Totalitarismus das Grundübel des vergangenen Jahrhunderts gewesen sei. „Der Konsens geht darüber nicht hinaus“, sagte Troebst. Auch das geplante Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel werde keine neue, multiperspektivische Sichtweise über die Thematik von Flucht und Vertreibung hervorbringen, so seine Vermutung. Das zentrale Narrativ der Dauerausstellung – das bis zur Veröffentlichung der Geheimhaltung unterlag und nicht öffentlich diskutiert werden durfte – sei bereits beschlossen und nicht verhandelbar. Es sei eine Zyklenabfolge geplant, die mit Titeln wie „Europa im Aufstieg“ (vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit), „Finsternis über Europa“ (erste Hälfte des 20. Jahrhunderts), „Das geteilte Haus“ (die Jahre des Kalte Krieges) sowie „Überwindung der Grenzen“ (nach 1989) überschrieben ist und schließlich mit einem Ausblick „in eine, wie man vermuten kann, offenbar lichte Zukunft“ enden werde, so Troebst.

Małgorzata Ruchniewicz und Jaroslav Šonka ergänzten Troebst' Ausführungen mit Blick auf die deutsch-polnischen sowie deutsch-tschechischen Aufarbeitungsprozesse. Vieles, was in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in den nationalen Sieger- beziehungsweise Opferdiskursen überliefert wurde und einer Versöhnung entgegenstand, kann heute im Dialog zwischen Polen und Deutschland oder der Tschechischen Republik und Deutschland neu angesprochen und nach dem expliziten Verzicht auf Restitution und Revanche neu gesehen  werden. Das Narrativ vom gemeinsamen Europäischen Haus spielt dabei allerdings keine besondere Rolle.

Spannend wurde die anschließende Diskussion, als die Rede auf die europäische Erbschaft des Kolonialismus kam und auf die Rolle, die die Vereinigten Staaten von Amerika als Anstifter, Aufpasser und Garantiemacht für ein liberales Europa spielen. Erstaunlicherweise fällt beides im Konzept des Hauses der Europäischen Geschichte nicht oder nur kaum ins Gewicht.

Best-Practice-Erfahrungen in Kunst und Bildung

Dass Kulturschaffende bei der Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung oftmals wichtige Impulse setzen, ist während des Geschichtsforums immer wieder deutlich geworden. Ob in der Ausstellung „Jenseits der Grenzen – die vergessenen Flüchtlinge im Südkaukasus“ des Fotografen Jan Zychlinski; im Gespräch mit der Künstlerin Małgorzata Miśniakiewicz, die das Projekt „Presenting a lost home“ im Rahmen der Kulturhauptstadt Wrozław co-kuratierte; oder während des Artist Talks mit dem 1991 in Grosny geborenen Aslan Gajsumov, dessen Video-Installationen die Gewaltgeschichte Tschetscheniens auf schlichte und deshalb sehr eindrucksvolle Art schildern. Seine Arbeiten werden derzeit erstmals im Antwerpener Museum van Hedendaagse Kunst in einer Einzelausstellung präsentiert.

Weitere Best-Practice-Erfahrungen sind aus den Bereichen der Bildungsarbeit vorgestellt worden, wie beispielsweise das Projekt „Bringing together divided memory“ des Kunsthistorikers Georg Traska von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Darüber hinaus sind die vielfältigen Möglichkeiten, die hinter internetbasierten Geschichtsportalen stecken, besprochen worden. Ein Thema, das im kommenden Europäischen Geschichtsforum vertieft werden solle, sagte Walter Kaufmann.

Viele offene Fragen, einige Antworten

Am Ende des Geschichtsforums sind viele Fragen unbeantwortet geblieben. Vielmehr waren es drei Fragekomplexe, die schlussendlich das Ergebnis bildeten:

Einerseits sei klar geworden, dass Krieg und brutale Bevölkerungspolitik in einem untrennbaren Zusammenhang stehen, sagte Walter Kaufmann abschließend. Tatsache sei auch, dass die gewünschten oder erlittenen politischen Ergebnisse eines Krieges die Geschichte von Deportation und Vertreibung überdecken – bis heute. Die Erinnerung an Zwangsmigration ist abhängig davon, welcher Seite die Vertriebenen/Geflüchteten jeweils angehörten. Der Geschichtsdiskurs über Vertreibung müsse sich loslösen von dieser Betrachtung, so seine Forderung.

Der zweite Themenblock beschäftigte sich mit der Frage von Aufarbeitung, Kompensation und Versöhnung. Viele Problemfelder seien auf dem Gebiet deutlich geworden. Inwieweit müsse man sich mit Ergebnissen von Krieg und Vertreibung abfinden? Diese Ergebnisse seien zwar nicht rückgängig zu machen – wer dies fordere, lande schnell im Revanchismus. „Aber man muss Formen finden, um die Betroffenen und dieses Unrecht nicht so stehen zu lassen, wie es passiert ist – über öffentliche Aufarbeitung, Rehabilitierung, eventuell Kompensation.“

Die dritte große politische Frage sei die Perspektive der Versöhnung in einem großen europäischen Raum und die Versöhnung verschiedener Erinnerungen. Viele pragmatische Schritte seien bereits gegangen worden, gleichzeitig würden allerdings Diskurse ausgeblendet werden. „Es sind sehr viele spannende und offen Frage geblieben. Das Forum hat dazu beigetragen, sie in interessanter Form aufzubereiten und tatsächlich ins Gespräch untereinander zu kommen.“ Ein Gespräch, das im kommenden Jahr fortgesetzt werde.

Exkursionsnachmittag

Während des Geschichtsforums sind auch in diesem Jahr wieder Exkursionen angeboten worden. Diese führten in die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, dem zentralen Museum in Deutschland zum Thema Flucht und Ausreise aus der DDR; zur Gedenkstätte Berliner Mauer; in den Interkulturellen Garten Rosenduft, einem Begegnungsort für MigrantInnen, Vertriebene und Ansässige aus Bosnien-Herzegowina; und in das Internationale Congress Centrum (ICC), in dem derzeit 600 Flüchtlinge untergebracht sind. Über die Arbeit und die Herausforderungen dort sprachen die Exkursionsteilnehmer mit Matthias Nowak, dem Leiter der Flüchtlingshilfe Malteser Berlin, und der in der Flüchtlingshilfe ehrenamtlich Aktiven Amei von Hülsen-Poensgen.

 

Dieser Bericht zum Download:

5-j Evropejskij Istoriceskij Forum (pdf)

Report of the 5th European History Forum (pdf)

Bericht über das 5. Europäische Geschichtsforum (pdf)