
Nur in Ruanda und Skandinavien sitzen mehr Frauen in Parlamenten als in Lateinamerika. Gleichzeitig ist der Anteil von Frauen in Armut gestiegen. Die Heinrich-Böll-Stiftung geht mit diesem Schwerpunkt Geschlechterthemen auf den Grund.
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, eine Präsidentin noch keine geschlechtergerechte Gesellschaft. Lateinamerika zeigt, dass es gar nicht so schwer ist, ein weibliches Staatsoberhaupt zu wählen. Aktuell stehen mit Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien, Dilma Rousseff in Brasilien und Michelle Bachelet in Chile drei Frauen an der Spitze großer und wirtschaftlich wichtiger Länder, die immerhin zwei Drittel der Fläche des südamerikanischen Kontinents ausmachen. Sehr viel schwieriger ist es jedoch, grundsätzliche Fragen zu stellen und Normen und Werte einer noch immer patriarchal, sexistisch und rassistisch geprägten Gesellschaft umzustoßen.
Nur in Ruanda und Skandinavien sitzen mehr Frauen in Parlamenten
Die Bilanz 20 Jahre nach der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking zeigt einige Fortschritte für die lateinamerikanischen und karibischen Frauen und Mädchen: Immer mehr Frauen nehmen am bezahlten Arbeitsmarkt teil, Mädchen und Frauen haben einen verbesserten, wenn nicht sogar besseren Zugang zu Schulen und Universitäten als Jungen und Männer. Selbst im globalen Vergleich sitzen nur noch in Ruanda und Skandinavien mehr Politikerinnen in den nationalen Parlamenten.
Auch institutionell und rechtlich sind die Standards beachtlich gestiegen: Frauenrechte wurden ausgebaut, nationale Gesetze verabschiedet, um Gewalt gegen Frauen im privaten und öffentlichen Raum zu bekämpfen, Frauenquoten für Parlamentswahlen erhöht. Feministische und Frauenorganisationen aus der Region berufen sich auf dieses juristische Instrumentarium, um die Regierungen der Länder in die Verantwortung zu nehmen - gerade das Engagement und die Ausdauer der zahlreichen Frauen- und sozialen Bewegungen trugen wesentlich dazu bei, die formale Gleichheit von Männern und Frauen in der Region zu stärken.
Auf der anderen Seite verhindern konservative Akteur/innen neue geschlechterpolitische Errungenschaften oder stellen gar bereits erreichte in Frage. Dort, wo traditionelle Geschlechterrollen und –verhältnisse oder Familienbilder angetastet werden, gibt es harsche Gegenwehr: Eine konsequente rechtliche Entkriminalisierung der Abtreibung, ein wichtiges Aktionsfeld sowohl der feministischen als auch der Frauenorganisationen, konnte bisher kaum umgesetzt werden. Nur in Kuba, Uruguay und Mexiko-Stadt ist die Abtreibung in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft legal.
Gewalt gegen Frauen weiterhin alarmierend
Die Gewalt gegen Frauen und Mädchen nimmt faktisch kaum ab. Die Zahl der Feminizide - Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts, der extremste Ausdruck der Gewalt an Frauen –steigt in einigen Ländern des Kontinents sogar weiter an. Auch ökonomisch haben Frauen weniger profitiert als die Männer: Zwar konnte die Armut insgesamt in Lateinamerika in den letzten Jahren deutlich verringert werden; unter den Menschen, die in Armut leben, ist der Frauenanteil allerdings gestiegen.
Mit dem Schwerpunkt „Lateinamerika gegen den Malestream? Geschlechterdemokratie unter der Lupe“ wollen wir einige dieser Themen näher betrachten. Wir suchen nach den strukturellen Ursachen für die Ungerechtigkeiten, diskutieren über Ansätze und Strategien, diese zu überwinden, zeigen Erfolge auf und machen Mut für die Zukunft. Das Durchhaltevermögen der vielen Aktivist/innen verdient internationale Anerkennung und Solidarität – denn die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen muss überall in Frage gestellt bleiben.
Veranstaltungsreihe zum Schwerpunkt:
- 13.4.2015, 19.30-21.30: Feminismus, selbstverständlich! Aus der Praxis lateinamerikanischer Aktivistinnen
Ob Gewalt und Unsicherheit, Umweltzerstörung oder Klimawandel, schon lange mischen sich Feministinnen in die gesamtgesellschaftlichen Debatten zu den großen Herausforderungen Lateinamerikas ein. Dabei konzentrieren sie sich nicht allein auf frauenspezifische Themen, sondern suchen nach übergreifenden Analysen und Politikvorschlägen - aus feministischer Perspektive. Lateinamerikanische Feministinnen berichten aus der Praxis ihrer Organisationen und reflektieren, wie sich der Ansatz ihrer Arbeit im Laufe der Jahre verändert hat.
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- 4.5.2015, 19.30-21.30: Wie geschlechterblind ist das Völkerstrafrecht? Zum justiziellen Umgang mit sexualisierter Kriegsgewalt in Kolumbien
Alle sechs Tage wurde 2013 eine Frau im bewaffneten Konflikt in Kolumbien vergewaltigt. In den Jahren zwischen 2010 und 2012 waren mehr als die Hälfte der Täter staatliche Akteure. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs hat sexualisierte Gewalt als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Der Sicherheitsrats der Vereinten Nationen betont, dass ein Ende der Straflosigkeit solcher Taten unerlässlich für dauerhaften Frieden, Gerechtigkeit, Wahrheit und nationale Aussöhnung ist. Völkerstrafrechtler/innen und Frauenrechtsaktivistinnen aus Lateinamerika und Europa diskutieren am Beispiel der Aufarbeitung des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien warum die wenigsten Täter wegen sexualisierter Gewalt verurteilt werden.
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- 14.7.2015, 18.30-20.30: Angestellt, bezahlt und trotzdem arm: Lateinamerikanischer Arbeitsmarkt trifft feministische Ökonomie
Die Armut insgesamt, aber auch die soziale Ungleichheit konnten in Lateinamerika dank ökonomischem Wachstum verringert werden. Frauen haben von diesen Veränderungen weniger profitiert als Männer, trotz stärkerer Einbindung in die lateinamerikanischen Arbeitsmärkte. Woran liegt das? Welche Ansätze für Politiken im Arbeitsmarkt und über diesen hinaus führen zu mehr ökonomischer Unabhängigkeit und damit zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe?
» Die Veranstaltung "Angestellt, bezahlt und trotzdem arm: Lateinamerikanischer Arbeitsmarkt trifft feministische Ökonomie" vom 14. Juli konnte leider nicht aufgezeichnet werden. -
28.9.2015, 17-20:30 Uhr: Mein Körper - meine Rechte!
Ob konservativ oder progressiv: In der Abtreibungsfrage verzeichnet die Bilanz der unterschiedlichen Regierungen Lateinamerikas kaum Fortschritte, zum Teil sogar eher dramatische Rückschritte. So wurden in El Salvador und Nicaragua 1997 und 2006 Totalverbote eingeführt, und Schwangerschaftsabbrüche seitdem mit langen Gefängnisstrafen geahndet. Auch der starke Einfluss der katholischen Kirche und evangelikaler Strömungen sowohl in der Politik als auch in der Gesellschaft spielt eine maßgebliche Rolle bei der Beibehaltung bzw. Verschärfung der strengen Gesetzgebung.
Zwei Frauenrechtsaktivistinnen aus Chile und El Salvador analysieren im Gespräch, welche (Macht-)Interessen hinter den Abtreibungsgesetzen stecken und warum es so schwer ist, diese zu ändern. Welche Rolle spielen die sozialen Bewegungen dabei, das gesellschaftliche Bewusstsein in dieser Frage zu ändern? Anschließend debattieren unsere Gäste mit Vertreter/innen der Bundesregierung und deutscher Nichtregierungsorganisationen die Rolle internationaler Abkommen und konkrete Handlungsmöglichkeiten für die deutsche und europäische Politik.
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