Wachstum, Ernüchterung und Verunsicherung: Ein Jahr Modi in Indien

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Anhänger verfolgen Modis Wahlkampfrede im Frühjahr 2014 in Gaziabad, Uttar Pradesh

Nach einem Jahr Modi-Regierung verzeichnet Indien das erhoffte Wirtschaftswachstum. Doch es gibt auch viel Ernüchterung, speziell in der Landfrage. Aggressive hindunationalistische Kräfte und ein wachsender Druck auf ausgewählte NGOs verunsichern die Zivilgesellschaft.

Als Narendra Modi am 26. Mai 2014 sein Amt als Premierminister Indiens antrat, hatte er enorm hohe Erwartungen geweckt, Indies Wirtschaft aus der Krise zu bringen. Heute, ein Jahr später, wächst Indiens Wirtschaft tatsächlich wieder stärker. Doch der große Knall ist ausgeblieben, und Ernüchterung macht sich auch in Business-Kreisen breit. Eine Änderung der Gesetzgebung zur Entschädigung bei Landenteignung erweist sich als schwerwiegendes politisches Problem. Zugleich wächst angesichts eines zunehmend aggressiven Auftretens radikaler hindunationalistischer Kräfte im öffentlichen Raum vor allem bei den Minoritäten Indiens die Verunsicherung. Auch der wachsende Druck des Innenministeriums auf Teile der Zivilgesellschaft bereitet Sorgen.

Aus den indischen Parlamentswahlen im April 2014 war die Bharatiya Janata Party (BJP) mit einer absoluten Mehrheit der Sitze (bei nur 31 Prozent der gültigen Stimmen, Ergebnis des in Indien praktizierten Mehrheitswahlrechts und einer stark zersplitterten Opposition) im Unterhaus hervorgegangen. Es war ein hochgradig personalisierter Wahlkampf: Spitzenkandidat Modi, damals durchaus umstrittener Ministerpräsident des Bundesstaats Gujarat, hatte sich als Garant einer effizienten, nicht-korrupten, wachstumsorientierten Regierungsführung zu präsentieren vermocht, der vor allem die Mittelklasse und auch viele Jugendliche in den Städten ansprach.

Vermarktung von Modi und der Kampagne für ein „Sauberes Indien“. Unter der Abbildung Modis eine stilisierte Brille, die eine Verbindung zu Mahatma Gandhi herstellt

Erstmals seit Jahrzehnten erlaubt sein Wahlerfolg eine Regierungsbildung ohne Koalitionspartner. Allerdings verfügt die BJP im durch die Landesregierungen besetzten Oberhaus trotz Wahlerfolge in einigen Bundesstaaten über keine eigene Mehrheit und muss zur Durchsetzung mancher wichtiger Gesetzesprojekte weiterhin Partner finden.

Seit Amtsantritt präsentiert Modi sich als „Macher“, der überfällige Entscheidungen über Infrastrukturprojekte trotz Umweltbedenken durchwinkte, vieles zur Chefsache machte, sich persönlich an die Spitze populärer Kampagnen wie Swachh Bharat („Sauberes Indien“) stellte und durch seine intensive öffentliche Präsenz in der Innen- und Außenpolitik auffiel, die seinem Vorgänger Manmohan Singhüberhaupt nicht lag.

Bis heute – so sehen es viele Beobachter in Delhi – sind Entscheidungskompetenzen im Büro des Premierministers konzentriert, während Minister und hohe Beamte heute als weniger einflussreich oder selbständig als in früheren Regierungen gelten. Doch es gibt auch Zweifel daran, dass dieser Regierungsstil hinreicht, um ein komplexes Land wie Indien zu regieren.

Wirtschaftspolitik mit Problemen

Gleich in den ersten Monaten ihrer Amtszeit initiierte die neue Regierung eine Reihe innovativer und ambitionierter Sozial- und Wirtschaftsprogramme. Eine Initiative zum Ausbau der „finanziellen Inklusion“ soll die 40 Prozent der Haushalte erreichen, die bislang noch nicht über Bankkonten verfügen. Für den außerordentlich anspruchsvollen Plan zum Ausbau von Indiens Solarstrom-Kapazität auf 100 Gigawatt bis zum Jahr 2022 (derzeit sind es rund 3,7 GW) wurden bereits viele Zusagen privater Investoren eingeworben. Das war ein guter Start, aber den Erfolg dieser und anderer Programme wird man erst in einigen Jahren beurteilen können.

Hat Modi Indiens lahmende Wirtschaft wiederbeleben können? Kurzfristig sieht es ganz so aus: Die BIP-Wachstumsprognosen für das laufende Jahr liegen bei  7,5 Prozent, was Indien noch vor China schiebt und zum großen Hoffnungsträger unter den BRICS-Staaten macht. Da allerdings das Statistische Amt jüngst die Methodik der BIP-Berechnung änderte, ist die Aussagekraft solcher Zahlen begrenzt. Andere Daten – etwa zum Wachstum der Industrieproduktion – sehen deutlich weniger beeindruckend aus. Im ersten Jahr der Regierung Modi blieb insbesondere die Nahrungsmittelinflation gering.

Dies war auch Folge der für Indien günstigen niedrigen Erdölpreise, doch drohen seit den jahreszeituntypischen Regenfällen in Nordindien in diesem Frühjahr Ernteausfälle. Die englischsprachige Wirtschaftspresse des Landes sieht Modi insgesamt nach wie vor positiv, aber eine Ernüchterung angesichts langsamer Reformfortschritte ist unübersehbar. Wer einen großen Knall der Liberalisierung erwartet hatte, wird enttäuscht sein.

Tatsächlich steht Modi – wie es jede andere indische Regierung heute auch tun würde – vor enormen strukturellen Problemen. Das Bevölkerungswachstum ist stark zurückgegangen, aber die große Zahl junger Menschen, die derzeit ins Erwerbsalter kommen, bedarf massiver Qualifizierungsprogramme und enormer Anstrengungen bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, um zur erhofften „demographischen Dividende“ zu werden.

Dafür hat der Premierminister „Make in India“ ausgerufen, d.h. eine industrie- und exportorientierte Wachstumsstrategie in Anlehnung an die Erfolgsgeschichten Ost- und Südostasiens. Allerdings sind die globalen Rahmenbedingungen für den Erfolg einer solchen Strategie angesichts der Dominanz Chinas im verarbeitenden Gewerbe und der generellen weltwirtschaftlichen Schwächen alles andere als optimal, wie auch der Chef der indischen Zentralbank mehrfach betont hat.

Zur Umsetzung einer solchen Strategie sind Reformen in vielen Bereichen notwendig, die auf vielfältige Widerstände treffen. Die Modi-Regierung hat einige Sektoren weiter für Auslandsinvestitionen geöffnet, doch der erhoffte Ansturm von Investoren blieb bisher aus. Es gibt zahllose steuer- und arbeitsrechtliche und andere regulatorische Hindernisse, deren Bestand von relevanten Interessengruppen erbittert verteidigt wird. Entgegen mancher Perzeptionen ist die BJP durchaus keine Partei des ungebremsten Neoliberalismus, sondern umfasst vielfältige, nationalistisch und auch protektionistisch ausgerichtete Interessengruppen.

Auseinandersetzungen um Land und Entschädigungen

Am deutlichsten werden die Probleme vielleicht in der Landfrage, wo ökologische, soziale und wirtschaftliche Interessen besonders scharf aufeinandertreffen. Die Lage ist durch Umweltzerstörung Übernutzung, Landknappheit und breite Streuung von Kleinbesitz gekennzeichnet. Ende 2013 hatte die damals Kongress-geführte Regierung mit Unterstützung auch der BJP ein Gesetz durch das Parlament gebracht, das Landenteignung für Industrie-, Infrastruktur- und Urbanisierungsprojekte aller Art neu regelt.

Waren in der Vergangenheit Bauern vielfach ohne adäquate Entschädigung von ihrem Land vertrieben wurden, schuf das neue Gesetz Verfahren für eine Konsensbildung unter Eigentümern, schrieb Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfungen vor und garantierte vergleichsweise substanzielle Entschädigungszahlungen für Landbesitzer, aber auch für Landlose, deren Existenz beispielsweise als Tagelöhner durch eine Enteignung infrage gestellt würde. Die Regierung unter Modi plant jetzt eine Aufweichung dieser Regeln, um – wie sie es sieht – die Verfahren zur Änderung der Landnutzung zu beschleunigen. Auch Verfahrensänderungen zur Aufweichung von Umweltauflagen sind in der Diskussion.

Die geplante Änderung des Entschädigungsgesetzes hat in den vergangenen Monaten zu einer beispiellosen Protestbewegung von Bauernorganisationen und Zivilgesellschaft und fast aller Oppositionsparteien geführt, die die BJP-Regierung jetzt als „bauernfeindlich“ dastehen lässt. Der breite Widerstand bringt die BJP in einem Land, in dem nach wie vor 50 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt sind, in ernsthafte Probleme und gefährdet ihre Chancen bei anstehenden Wahlen auf Ebene der Bundesstaaten – durch die sie eigentlich die Mehrheit auch im Oberhaus erreichen will. Ohnehin erlitt die 2014 vielbeschworene und phasenweise unaufhaltbar erscheinende „Modi-Welle“ einen erheblichen Dämpfer, als im Februar 2015 die in Delhi gut aufgestellte und zu lokalen Themen mobilisierende „Aam Aadmi Party“ unter Arvind Kejrival fast sämtliche Mandate im Hauptstadtparlament gewann.

Trotz eines guten Starts – die Staatschefs der Nachbarstaaten einschließlich Pakistans Nawaz Sharif besuchten Modis Amteinführung – ist keine Verbesserung der Beziehungen zu Pakistan in Sicht. Aber der Premierminister ist, anders als sein Amtsvorgänger, intensiv im Ausland unterwegs, vor allem in die wichtigsten Handelspartnerländer Indiens in Europa, Asien und Amerika. Auf Reisen in die USA und nach Australien wandte er sich in spektakulären Großveranstaltungen direkt an die indische Diaspora, innerhalb der er viel Unterstützung hatte – eine Form von „public diplomacy“, wie es sie in Indien bisher nicht gab.

Druck auf Minderheiten und Zivilgesellschaft

Während vieles an Modis persönlichem Führungs- und Kommunikationsstil – zum Beispiel auch der intensive Einsatz sozialer Medien – „Modernität“ und „Offenheit“ repräsentieren, verschaffen sich seit Herbst 2014 aggressive Varianten des Hindu-Nationalismus verstärkt öffentlich Geltung. Dieses politische Spektrum wird durch den „nationalen Freiwilligenverband“ Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und andere, teilweise regelrecht faschistische Organisationen geprägt. Zu deren Themenfeld gehört eine Sprachpolitik, die Hindi als offizielle Sprache Indiens landesweit – auch gegen den Widerstand der Bundesstaaten im Süden – durchsetzen und die Rolle von Sanskrit im Bildungswesen stärken will; letzteres hat unter anderem zu einem Konflikt über die Rolle des Deutschunterrichts im Curriculum staatlicher Schulen geführt.

Dramatischer sind Aktionen zur „Re-Konversion“ armer muslimischer und christlicher Bevölkerungsgruppen, die unter dem Stichwort ghar vapsi („Rückkehr nach Hause“) zum Hinduismus „zurückgeführt“ werden sollen. Es gibt in der BJP Kräfte, die diese Situation zur Durchsetzung eines Gesetzes zu einem generellen Konversionsverbot nutzen wollen, um die von ihnen als bedroht wahrgenommene Dominanz des Hinduismus in Indien zu sichern. Im Winter kam es mehrfach zu Fällen von Vandalismus in Kirchen in Delhi. Premierminister Modi, selbst in der Welt des RSS politisch groß geworden, brauchte mehrere Monate, bevor er in einem Gespräch mit Bischöfen öffentlich klarstellte, dass solche Aktivitäten unakzeptabel seinen und jeder Inder und jede Inderin das Recht besitze, seine Religion frei zu wählen.

Während die Aktivitäten des rechten Rands der indischen Politik die religiösen Minoritäten in Indien verunsichern, verstärkt sich der Druck des Innenministeriums auf zivilgesellschaftliche Organisationen, insbesondere solche, die die wachstumsorientierte, auf fossiler Energie oder auch Atomkraftwerken aufbauende Entwicklungsstrategie kritisieren, die Landrechte von Bauern gegen Enteignung für Infrastruktur- oder Bergbauprojekte verteidigen etc.

Der Druck ist nicht wirklich neu: Bereits die Kongress-Regierung begann eine Überprüfung indischer Nichtregierungsorganisationen (NRO), die sich unter dem sogenannten Foreign Contributions Regulatory Act (FCRA) registrieren und der Überwachung durch die Behörden stellen müssen, um Mittel ausländischer Geber empfangen zu dürfen. Schon 2011 wurden die FCRA-Lizenzen zahlreicher Organisationen wegen realer oder angeblicher Verstöße gegen die Registrierungsbedingungen suspendiert. Unter Modi allerdings hat sich der Druck massiv verstärkt: Fast 9.000 Organisation (d.h. über 20 Pozent aller FCRA-registrierten NROs in Indien) haben inzwischen ihre Lizenz verloren, und nicht alle von diesen Fällen waren bloße Karteileichen. Der Intelligence Bureau hat etwa ein Dutzend internationaler Organisationen, darunter die Ford Foundation, unter besondere Beobachtung gestellt, und erlaubt Transfers nur mehr mit Einzelfallgenehmigung.

Das Innenministerium und Greenpeace befinden sich in einem öffentlich geführten Krieg miteinander. Der Druck der Regierung Modi auf indische zivilgesellschaftliche Organisationen – jedenfalls solche, die nicht nur soziale Dienstleistungen erbringen, sondern auch politisch agieren – hat sich in den vergangenen Wochen wesentlich verstärkt.