"Wir sind eine umherirrende Generation!"

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"Bei diesem Überangebot an Optionen wird es für viele Menschen auch immer schwieriger Bedeutsamkeiten zu erkennen"

Fragen zur Zeit: Professor Gerald Hüther über die Verdichtung des Alltags, die Suche nach dem Bedeutsamen im Leben und wie Politik Menschen dabei unterstützen könnte – es aber (noch) nicht tut. Ein Interview aus dem aktuellen Böll.Thema "Sehnsucht nach Zeit".

Herr Hüther, die Politik hat die "gehetzte Generation" für sich entdeckt. In der Tat haben viele Menschen das Gefühl, die Zeit "rennt ihnen davon", sie müssen sich Zeit "stehlen", sie "verlieren" Zeit ..., alles Begriffe der Anstrengung und Entbehrung, Begriffe des Mangels. Warum empfinden wir Zeit so?

Gerald Hüther: Wir erleben in unserer Gesellschaft eine zunehmende Verdichtung des Lebens. Wir haben aberwitzig viele Optionen, was wir alles tun können: Nehmen Sie die Schulabgänger/innen, die zwischen unzähligen Ausbildungswegen wählen können, nehmen Sie die Generation in der Mitte, in der viele arbeiten wollen, eine Familie gründen, Hobbys pflegen, sich fortbilden und so weiter. Nehmen Sie die Pensionisten: Früher waren sie "nur" Opa und Oma, heute sind sie Studierende, Weltreisende, haben ein Ehrenamt ... das war unvorstellbar noch vor kurzer Zeit ... Da eröffnen sich ganz neue Perspektiven und Lebensentwürfe.

Das ist doch eigentlich wunderbar?

Natürlich. Aber bei diesem Überangebot an Optionen wird es für viele Menschen auch immer schwieriger – vielleicht auch, weil die Prozesse sich so beschleunigen –, Wichtiges vom Unwichtigem zu unterscheiden. Also Bedeutsamkeiten zu erkennen, wie ich es nenne. Wir wollen alles oft sogar gleichzeitig machen, weil wir begreiflicherweise das Gefühl haben, sonst etwas zu verpassen. Wenn etwas für mich wirklich vorrangig und zentral, also bedeutsam ist, dann kümmere ich mich auch darum.

Das heißt, eigentlich haben wir genug Zeit?

Wenn ich gerade Vater geworden bin und es wichtig finde, dass ich mit meinem Kind eine gewisse Zeit verbringe, dann nehme ich mir dafür auch die Zeit. Nur: Ich muss eben herausbekommen und mich dafür entscheiden, dass es so wichtig ist für mich, wichtiger als alles andere. Ich spitze es zu: Wir haben in Wirklichkeit keine "gehetzte" Generation. Wir haben eine in Orientierungslosigkeit "herumirrende" Generation. Wir irren herum, glauben alles Mögliche machen zu müssen, wollen überall dabei sein. Deshalb haben wir keine Zeit.
Menschen, die mehrere Jobs brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, würden das als zynisch beschreiben.

Es ist ja völlig klar, dass für Menschen, die um die existenziellen Grundlagen kämpfen, eben die primär bedeutsam sind. Aber – und ich bin mir dessen bewusst, dass ich jetzt etwas sehr Gewagtes sage: Ich würde mir das im Einzelfall sehr gerne anschauen, warum da jemand drei Jobs hat. Vielleicht ist doch in dem einen oder anderen Fall der Wunsch vorrangig, einen Lebensstandard und bestimmte Dinge haben zu wollen, die andere ihm als bedeutsam vorgaukeln.

Und was würden Sie ihnen raten?

Was ich allen Menschen raten würde: Vielleicht könnte es helfen zu schauen, ob es möglicherweise einen anderen Ort – zum Beispiel auf dem Land – oder eine andere Gemeinschaft – zum Beispiel einen guten Freundeskreis – gibt, wo sie ihr Leben mit anderen zusammen besser und selbstbestimmter gestalten könnten.

Zu erkennen, was bedeutsam ist: Wie kann das gelingen?

Wir erkennen Bedeutsamkeiten jedenfalls nicht durch kognitive Überlegungen und erst recht nicht anhand der Bewertungen und Behauptungen anderer. Also, wenn jemand sagt: "Das und das ist wichtig, das musst du tun", wird das noch längst nicht bedeutsam für einen Menschen. Das wird überall, in Unternehmen in der Führungskultur, in der Politik im Gespräch mit den Bürginnen und Bürgern, oft vergessen. Bedeutsamkeiten ergeben sich aus dem konkreten Erleben, anders ausgedrückt: als Summe oder als Integral über die bisher im Leben gewonnenen Erfahrungen. Und an diese Erfahrungen ist immer ein Gefühl gekoppelt, und das ist entscheidend für unsere eigenen Bewertungen.

Heißt das, wir wissen bereits, was bedeutsam für uns ist und erkennen es wieder, wenn wir es erleben?

Genau. Die meisten Menschen erfahren am Anfang ihres Lebens zwei Dinge: auf der einen Seite die Verbundenheit mit anderen Menschen, also Vater, Mutter, Familie. Auf der anderen Seite die von Wachstum, Kompetenzzuwachs, zunehmender Autonomie und am Ende: Freiheit. Wir lernen, dass beides möglich ist: in der Verbundenheit Freiheit zu erleben. Im Moment ist es in unserer Gesellschaft allerdings extrem schwer, diese beiden Grundbedürfnisse zu stillen: also zum Beispiel die Verbundenheit mit der Familie zu erleben und sich gleichzeitig persönlich, im Beruf oder etwas anderem weiterzuentwickeln.

Zeitpolitik will Menschen ja gerade dabei unterstützen, ihre Zeit wieder mehr nach ihren Bedürfnissen oder Bedeutsamkeiten, wie Sie sagen, zu gestalten. Kommt sie also gerade zu rechten Zeit?

Wir müssen abwarten, was genau die Inhalte dieser "Zeitpolitik" sein werden. Lassen Sie mich lieber grundsätzlich fragen, was Politik bewirken kann. Gemeinschaften sind nicht gezielt von außen steuerbar. Sie sind sich selbst organisierende Systeme, die sich nur verändern, wenn ihre Mitglieder eine Relevanz erkennen, also sehen, dass etwas für sie wichtig, bedeutsam sein könnte. Und diese Relevanz kann nicht verordnet werden, sei sie moralisch oder sonstwie noch so gerechtfertigt. Sie kann nur durch konkretes Erleben erfahrbar gemacht werden. Das haben viele Politiker und Politikerinnen in unserem Land noch nicht verstanden, deswegen ist meine Hoffnung, ehrlich gesagt, nicht sehr groß, dass sich jetzt auch bei der Zeitpolitik viel bewegen wird.

Woran erkennen Sie, dass die Politik das nicht verstanden hat?

Hören Sie nur mal zu, auf welche Weise viele Politikerinnen und Politiker mit ihren Bürgerinnen und Bürgern sprechen. Sie verkünden politische Positionen, sie mahnen, sie belehren, reden von notwendigen Veränderungen und Maßnahmen. Sie agieren in einem hierarchischen System, top down, von oben herab und sehr exklusiv. Und wundern sich dann, dass sich nichts bewegt, dass niemand ihre Positionen teilen will. Das ist leider auch der politischen Führung der Grünen passiert.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Der Veggie Day – ein grandioses Beispiel für eine völlige Verirrung dessen, was Politik machen kann. Man hat eine politische Absicht, die gut sein mag, aber man zwängt sie den Menschen auf, verordnet sie, macht die Bürgerinnen und Bürger zu Objekten. Wenn Menschen fleischloses Essen bedeutsam fänden, dann würden sie von ganz allein auf die Idee kommen, ihre Ernährung umzustellen. Und jetzt, bei der so genannten Zeitpolitik, gewinnt man den Eindruck, Bündnis 90/Die Grünen wüssten bereits, wie die Menschen ihre Zeit sinnvoll oder besser verbringen oder sogar, dass sie Zeit verordnen wollen – das könnte ebenfalls nach hinten losgehen.

Was ist die Alternative? Wie können Politikerinnen und Politiker Relevanz herstellen?

Indem sie einen Raum eröffnen, der es den Menschen erlaubt, selbst auszuprobieren und herauszufinden, was ihnen wirklich am Herzen liegt. Es gibt ja genügend und sehr bemerkenswerte Beispiele, die deutlich machen, wie Menschen ihre eigene Gestaltungskraft zurückgewinnen. Solche Leuchttürme müssten Politiker/innen finden und so in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit stellen, dass sie eine hohe Attraktivität für alle anderen bekommen. Welchen Vorteil hat es für eine Gemeinschaft, für Einzelne, wenn sich auch Väter um ihre Kinder kümmern? Was verändert sich für mich, für andere, wenn ich fleischlos esse? Relevanz schaffen heißt: von Subjekt zu Subjekt sprechen, ermutigen, einladen, Beispiele geben. Also das Gegenteil dessen, was bei uns in der Politik passiert.

Aber es kann doch nicht allein Aufgabe der Politik sein, solche Leuchttürme aufzustellen?

Nein, aber sie könnten sie suchen und ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken. Ich bin davon überzeugt, dass Aktionen wie die einiger bekannter Köche jüngst über Facebook "Eine Woche fleischlos kochen" das Thema in kürzester Zeit sehr bedeutsam für sehr viele Menschen gemacht haben, mehr als es Politik könnte oder getan hat. Die Leute haben Rezepte ausgetauscht, darüber gesprochen, wie es geschmeckt hat, wie es sich auf das Wohlbefinden ausgewirkt hat und so weiter. Und auf einmal gab es viele, die das nachmachen, die mitmachen wollten. So entsteht Relevanz, Bedeutsamkeit. Wenn das auch Politiker schaffen würden, dann wäre ihre Arbeit auf einmal auch viel leichter.

Wo ist das Ihrer Ansicht schon mal gelungen?

Wenn Sie heute in Schweden über die Straße gehen, kriegen Sie die Augen kaum zu vor Erstaunen, wie viele junge Männer dort augenscheinlich sehr glücklich Kinderwagen vor sich herschieben. Dort hat es sich bei den Unternehmen längst herumgesprochen, dass diejenigen Männer, die in den Erziehungsurlaub gegangen sind, als wesentlich wertvollere Mitarbeiter zurückkommen. Und jeder, der sich entschließt, sein Kind zu betreuen und das Unternehmen für eine gewisse Zeit zu verlassen, bekommt von seinem Arbeitgeber sogar ein Gratifikationsfest ausgerichtet. Nicht weil die Politik das so beschlossen hat, sondern weil Unternehmer die Erfahrung gemacht haben, dass ihre Mitarbeiter und sie selbst davon profitieren.

Können Sie sich so etwas bei uns auch vorstellen?

Bisher sicher nicht. Denn bei uns wird die positive Erfahrung, die Väter bei der Erziehung ihrer Kinder machen, nicht propagiert. Bei uns ist es bedeutsam, dass ein Unternehmen reibungslos weiterläuft, ohne lästige Zwischenfälle. Solange wir so denken, solange wir – ob nun die Politik oder wir alle – nicht ernsthaft danach suchen, wie Menschen andere, für sie und ihr Zusammenleben günstigere Erfahrungen machen können, solange so viele Menschen das Gefühl haben, als Objekte behandelt zu werden, wird sich bei uns nichts ändern. So lange werden die Menschen weiter umherirren und weiter keine Zeit haben. 
 
Gerald Hüther ist Sachbuchautor und Professor für Neurobiologie an der Universität Göttingen. Er befasst sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung (z. B. maennerfuermorgen.org, Kulturwandel.org, Schule-im-Aufbruch.de).

Dieses Interview ist in der aktuellen Ausgabe von Boell.Thema "Sehnsucht nach Zeit" erschienen. Weitere Beiträge und die Publikation zum Herunterladen finden Sie hier.