„Zuwanderung als Chance“ - so sehen das nicht alle in Mecklenburg-Vorpommern. Aber viele Bürgermeister/innen argumentieren gegen die Hetze von AfD und NPD und werben für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Ueckermünde-Ost, 20. September 2015: Tochter Sitra kann laufen und beginnt zu sprechen. Der jüngste Sohn, Zain (7), geht nun auch zur Schule. Er wacht nachts nicht mehr so oft mit Albträumen auf. Alle drei Iklim-Brüder Tischtennis trainieren inzwischen bei einem neuen Tischtennis-Übungsleiter. Mutter Idra hat begonnen, von einer Nachbarin Deutsch zu lernen. Vater Mahmoud wird wieder unruhiger, denn die Behörden wollen nun bald endgültig über ihren Aufenthaltsstatus entscheiden.
Derweil gibt es natürlich auch in Mecklenburg-Vorpommern besorgte Einheimische, die den Flüchtlingen und Migranten mit Skepsis und Vorbehalten begegnen. Und es gibt jene, die offen hetzen. Wie viele von ihnen im Herbst die NPD wählen würden, wenn sie bis dahin noch erlaubt ist, ist unklar. Der Schweriner Landtag ist derzeit der einzige in Deutschland, in dem die NPD noch sitzt.
Doch während sie sich schon deutlich auf dem absteigenden Ast befand, ist der Zuspruch zumindest für jene Bewegungen und Parteien gewachsen, die sich klar gegen einen „unkontrollierten, ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen“ und damit gegen den politischen Mainstream vor allem in Berlin aussprechen.
Die einzige Hoffnung besteht darin, dass sich das Wählerpotential zwischen NPD und AfD aufreibt. Doch zumindest eine der beiden rechten Parteien wird es in den Landtag schaffen, darin sind sich alle Parteienforscher und die Vertreter der etablierten Parteien einig. Vor allem in der Parteizentrale der Linken fürchtet man insgeheim, dass sich ein erklecklicher Teil ihrer konservativen Stammwählerschaft diesmal der „Alternative für Deutschland“ zuwenden könnte. Unter der Hand räumen führende Linke ein, sie nähmen vor allem Frust über den gefühlten und tatsächlichen Kontrollverlust des Staates wahr, was die Souveränität über das eigene Territorium und die Gesetze angeht.
Derweil will Schwerins Oberbürgermeisterin Angelika Gramkow (Die Linke) die offizielle Parteilinie der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft mit der Realität einer schwer verschuldeten Kommune mit überdurchschnittlich vielen Hartz-4-Empfängern in Übereinstimmung bringen. „Schwerin hatte vor der Wende 135.000 Einwohner. Jetzt sind es nur noch rund 93.000. Natürlich sind wir in der Lage, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen! Aber es geht ja nicht nur um die Unterbringung und Versorgung, sondern vor allem um die Integration. Und da müssen wir aufpassen, denn mit den tausenden Russlanddeutschen, die in den 90er Jahren zu uns gekommen sind, hat das nicht zufriedenstellend geklappt. Zu viele sind dauerarbeitslos und leben abgeschottet.“
Doch mit Blick auf das Große und Ganze im Land streicht auch Angelika Gramkow die Chancen heraus: Schon fahren in einigen Gegenden wieder mehr Busse. Kindergärten und Schulen müssen wieder ausgebaut, Lehrer, Polizisten, Sozialpädagogen, Erzieher zusätzlich eingestellt werden. „Das demographische Problem von Mecklenburg-Vorpommern ist dadurch nicht komplett zu lösen.“, sagt die Oberbürgermeisterin. Aber helfen könne eine gelungene Integration von Flüchtlingen durchaus, und auch die Einheimischen hätten etwas davon, wenn die Regierungen in Berlin und Schwerin jetzt neu über Bevölkerungsprognosen und bestimmte Infrastrukturentscheidungen nachdenken.
Happy End – vorläufig
Ueckermünde, 13. Dezember 2015: Die Iklims müssen nun doch nicht zurück nach Bulgarien. Sie haben einen Schutzstatus erhalten. Anfang Januar 2016 bekommen sie die Papiere. Dann müssen sie ihre kleine 4-Zimmer-Wohnung verlassen, weil die nur für Asylbewerber vorgesehen ist. Die Iklims, dann Hartz-4-berechtigt, dürfen und müssen sich nun eine neue Bleibe suchen. In Ueckermünde gibt genügend Leerstand, in Hamburg nicht. Dennoch haben Idra und Mahmoud lange gegrübelt. Sind ihre Chancen nicht besser in den Großstädten, wo es syrische communities und mehr Jobs gibt als hier? Oder sind sie doch nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen, um zu bleiben? Sie spüren, dass viele Deutsche große Erwartungen mit ihnen verbinden. Zu große. „Aber unsere Kinder haben hier erste Wurzeln geschlagen. Die können wir nicht wieder herausreißen. Nicht jetzt.“
Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Mecklenburg-Vorpommern finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).