"Zivilgesellschaftliche Solidarität neu denken"

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Weltweit nehmen die staatlichen Repressionen gegenüber Nichtregierungsorganisationen zu. Im Interview fordert Barbara Unmüßig, zivilgesellschaftliche Solidarität neu zu denken und das Thema der „shrinking and closing spaces“ ganz oben auf die politische Agenda zu setzen.

Frage: Die Handlungsspielräume für Nichtregierungsorganisationen werden in vielen Ländern immer mehr eingeschränkt. In manchen Ländern droht sogar Gefahr für Leib und Leben. Erst vor wenigen Wochen wurde die bekannte Menschenrechts- und Umweltaktivistin Berta Cáceres in Honduras ermordet. Warum nimmt der Druck auf die Zivilgesellschaft in solch einer massiven Art und Weise zu?

Barbara Unmüßig: Repressionen und Unterdrückung einer lebendigen und emanzipatorischen Zivilgesellschaft sind nichts Neues. Sie hat es immer gegeben. Was wir seit einigen Jahren erleben hat jedoch eine neue Qualität. Einer Vielzahl von Regierungen - ob autoritär, hybrid oder demokratisch - ist eine unabhängige und kritische Zivilgesellschaft nicht nur ein Dorn im Auge, sie bekämpfen sie in einem Ausmaß, wie das in den vergangenen 25 Jahren nicht geschehen ist. Regierungen gehen massiv gegen zivilgesellschaftliche Aktivistinnen und Aktivisten vor. Die Maßnahmen reichen von einschränkenden Gesetzen (NGO-, Medien-; Antiterrorgesetze) und bürokratischen Auflagen über Hetzkampagnen in den Medien und Zensur bis hin zu offener Repression durch Geheimdienste oder Polizei. Das Ziel ist jedes Mal dasselbe: Die Regierungen wollen die Arbeit politischer, sozialer und ökologischer Aktivist/innen, von Frauenrechtlerinnen bis Menschenrechtsverteidiger/innen delegitimieren und vor allem massiv einschränken.

Und diejenigen, die diesen Trend beobachten, gehen davon aus, dass er kein temporäres Phänomen ist, sondern mit fundamentalen Veränderungen in der internationalen Politik zu tun hat. Die aufstrebenden Ökonomien des globalen Südens betonen mehr denn je ihre Souveränität und sehen in der Kooperation und internationalen Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteur/innen eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten. An geltendes Völkerrecht, das Meinungs-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit garantiert und schützt, fühlen sich immer weniger Regierungen in Nord, Süd und Ost gebunden. Wir müssen sie aber konstant und mit Vehemenz daran erinnern.

Motive und Begründungen variieren bzw. werden je nach Interesse gewichtet. Die Sorge um die Innere Sicherheit und der Kampf gegen Terrorismus werden mehr denn je als Argumentationsmuster bemüht, sie sind Vorwand, demokratische Organisationen, kritische Köpfe und unabhängige Medien mundtot zu machen oder zu verbieten. Der Generalverdacht, gegen die innere Sicherheit zu verstoßen, soll alle repressiven Maßnahmen legitimieren. In autokratischen Ländern geht es zudem darum, jede Form der Organisierung oder des öffentlichen Protests im Keim zu ersticken.

Weltweit haben Proteste gegen Korruption und Willkür, gegen miserable Arbeitsbedingungen, gegen Großstaudämme, illegale Abholzung und Landraub gegen Bergbau und andere große Infrastrukturprojekte zugenommen. Zudem ermöglicht digitale Technik eine schnelle Vernetzung weit über das lokale hinaus und lässt so Protest und Widerstand zugleich international sichtbarer werden und schafft Solidarisierung. Genau das wollen die politischen und ökonomischen Eliten in vielen Ländern offensichtlich verhindern. Viele Mediengesetze laufen deshalb auf eine noch massivere staatliche Kontrolle des Internets hinaus. Politische und wirtschaftliche Eliten fürchten um ihre Macht und ihre "Geschäftsmodelle". Der gemeinsame Nenner ist politischer Machterhalt und die Sicherung wirtschaftlicher Interessen der Mehrheit der Eliten. Protest, vor allem organisierter, soll im Keim erstickt werden.

Tut die deutsche Bundesregierung Ihrer Meinung nach genug, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken?

Das Thema der eingeschränkten und sich schließenden Handlungsspielräume ist vor allem im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im Auswärtigen Amt und im Umweltministerium durchaus angekommen. Politische Konzepte, die eine Antwort auf die neue Qualität der Einschränkungen sind, kann ich nicht erkennen. Der Einzelfall steht hier eher im Vordergrund. Die Grünen im Bundestag haben einen parlamentarischen Antrag zum Thema eingebracht, der gerade beraten wird, vielleicht löst das wenigstens im Parlament und Regierung eine ernsthaftere politische Debatte zum Thema aus.

Die deutschen Botschaften setzen sich vor Ort bei Einzelfällen und auch zu den neuen NGO-Gesetzen mit kritischen Kommentaren ein. Gegenüber dem nun verabschiedeten chinesischen NGO-Gesetz gab es auch konzertierte und kritische Reaktionen einiger europäischer Regierungen und der US-amerikanischen Botschaft. Das sind wichtige und positive Signale. Jedoch mache ich mir wenig Illusionen, dass außenpolitische und außenwirtschaftliche Interessen die Agenda der Regierungen, auch der Bundesregierung bestimmen. Die Anliegen der kritischen Zivilgesellschaften, von Menschenrechtsaktivistinnen kommen da schnell unter die Räder. Die Türkei oder Ägypten sind da aktuell nur die herausragenden Beispiele. Außenpolitik ist komplexer denn je, hat viele Akteure mit ihren Interessen ins Auge zu nehmen. Hier, das sagen Diplomaten selber, bleibt häufig nur die Entscheidung zwischen Pest und Cholera.

Zudem: Die Zeiten sind auch vorbei, dass mit Konditionalisierung (so kritisch diese stets vor allem im Ökonomischen zu sehen waren) der Entwicklungshilfe zum Beispiel, Regierungen zur Einhaltung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angehalten werden sollten. Das hat wiederum mit den globalen Machtverschiebungen und den neuen Akteuren in der Entwicklungszusammenarbeit zu tun. Allerdings werden meines Erachtens auch ohne größere "Not" soziale und politische Beteiligungsrechte wie die sozialen und ökologischen Standards für Weltbankprojekte, die gerade die Zivilgesellschaften in den 80er Jahren erkämpft haben, aufgeweicht bzw. abgebaut. Mehr denn je bräuchte es hier Standfestigkeit und weniger Lippenkenntnis derjenigen Regierungen, die von sich stets behaupten, wie wichtig Ihnen Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien sind.

Nach wie vor werden NGOs und der Zivilgesellschaft allgemein wichtige Aufgaben bei der Umsetzung und beim Monitoring wie zum Beispiel der jüngst von der UNO verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDG) zugewiesen. Auch das Pariser Klimaabkommen würdigt die wichtige Rolle von NGOs, Klimaschutz zu ermöglichen und das Abkommen kritisch zu begleiten. Gleichzeitig werden vor allem die kritischen Akteur/innen verfolgt. Das Thema der shrinking and closing spaces gehört gerade deshalb ganz oben auf die politische Agenda bei der Umsetzung von Paris und den SDG und generell bei multilateralen Verhandlungen. Deutschland kann hier als Gastgeberin der G20 im nächsten Jahr erstens das Thema adressieren und zweitens ein Beispiel geben, in dem sie Zivilgesellschaft aus Nord, Süd und Ost breit beteiligt.

Welche Herausforderungen bringen diese zunehmend erschwerten Rahmenbedingungen im Ausland für deutsche Nichtregierungsorganisationen und ihre Partnerorganisationen mit sich?

Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit sind die Essenz von Partizipation und Demokratie. Sie sind durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verbriefte Grundrechte, sie sind geltendes Völkerrecht. Das müssen wir alle gemeinsam immer wieder einfordern. Eine Wirkung all der Gesetze, Einschüchterungen und Repression ist, dass Regierungen versuchen Zivilgesellschaft in "Gute" und "Böse" einzuteilen. Ja, sie gründen ja nicht selten selber NGOs, nutzen vielfältig neue soziale Medien für Regierungskampagnen und soft power Instrumente, wie Kulturinstitute oder Radiosender im Ausland und demonstrieren so, dass sie ja gar nicht gegen Zivilgesellschaft sind. Dieser Spaltungsversuche müssen wir uns mehr denn je bewusst sein und uns gegen sie zur Wehr setzen, gerade auch, wenn "unsere" Regierungen diese Spiel mitspielen. Die, die sich in ihren Gesellschaften weiterhin für mehr Gerechtigkeit, soziale und ökologische Teilhabe, für Frauenrechte einsetzen wollen, brauchen unseren Schutz und unsere Unterstützung. Wie die jeweils aussieht, ist sehr lokal- und länderspezifisch.

Jede Organisation, die mit kritischen Partnerinnen im globalen Süden arbeitet, wird deshalb und jeweils in enger Absprache mit Partner/innen ausloten müssen, wie weit sie mit einer kritischen, sozialen und politischen Agenda vor Ort noch gehen kann. Ich denke für uns alle gilt, dass Partnerinnen vor Ort die Themen, die Arbeitsweise, wie "laut oder wie leise" sie agieren wollen, bestimmen. Ihr Schutz muss im Vordergrund stehen. Das macht die Arbeit international und bei uns in Deutschland nicht einfacher. Wir brauchen eine noch viel größere Sensibilität und mehr Abstimmung, wen oder was wir in unserer Inlandsarbeit zur Sprache bringen. Eine Gratwanderung, weil ein Ziel der Regierungen ist es ja gerade zu bewirken, dass wir still werden, die Selbstzensur funktioniert und wir auf apolitischere Themen ausweichen.

Solidarität muss unter den repressiveren Rahmenbedingungen nochmals neu gedacht werden. Wie unterstützen wir ganz konkret in akuten Bedrohungssituationen Partner/innen? Können wir wenigstens beim Weg ins Exil helfen, wie können wir über Rechtshilfefonds konkrete Unterstützung leisten? Alles Fragen, die wir hier in Deutschland gemeinsam und nicht jeder getrennt angehen sollte, auch wenn jede Organisation für sich selbst entscheiden muss, wie sie in einem Land arbeiten will.

In Deutschland ist Transparenz ein ganz wichtiges Thema und viele NRO bemühen sich, ihre Aktivitäten so transparent wie möglich darzustellen. In Russland, Äthiopien oder Ägypten hingegen werden viele Organisationen fast schon in die Verschwiegenheit gedrängt, um überhaupt arbeiten zu können. Sehen Sie eine Möglichkeit, legitime Transparenzstandards von Schikane und staatlicher Kontrolle abzugrenzen?

Noch so eine Gratwanderung. Transparenz und Rechenschaftspflicht sind zu Recht hohe Standards und wir fordern sie nicht nur von Regierungen, Institutionen und der Wirtschaft ein, sondern praktizieren sie ja auch selbst. Unter repressiven Bedingungen müssen wir darüber in der Tat neu nachdenken. Wenn wir, wie gerade gesagt, Unterstützung und Schutz bedrohter Bürger/innen und Partner/innen als unsere wichtige Aufgabe betrachten, müssen wir Regeln - gerade zu Transparenz - so definieren, dass wir diesem Anliegen auch entsprechen können. Wie so etwas aussehen kann, darüber werden wir uns unter uns hoffentlich gemeinsam verständigen und ggf. auch die geldgebenden Ministerien, andere wichtige Geldgeber und Spender/innen überzeugen müssen.

Das Interview erschien zuerst auf Venro.org und im Böll.Thema 1/2016: Die Würde des Menschen. Ein Heft über Menschenrechte.