Nach dem Brexit: Wie weiter mit Migration und Integration?

Ralf Fücks auf dem Podium
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Eröffungsrede der Konferenz

Flüchtlings- und Migrationspolitik muss Hand in Hand mit Integrationspolitik gehen. Welche Chancen, Zumutungen, Anforderungen sind damit verbunden – aus der Perspektive der Ankommenden wie der Einheimischen? Die Eröffnungsrede von Ralf Fücks zum Kongress „Wie schaffen wir Integration?"

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

herzlich willkommen in der Heinrich-Böll-Stiftung. Wir freuen uns sehr, dass Sie zu unserer heutigen Veranstaltung so zahlreich erschienen sind. Ein besonderer Gruß geht an alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Großbritannien – ihr gehört zu uns!

Viele von uns stehen vermutlich noch unter Schock über das Ergebnis des britischen Referendums. Wir sind heute Morgen in einem anderen Europa aufgewacht. Das ist ein Schwarzer Freitag für Großbritannien und Europa. Das stolze Britannien geht schweren wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen entgegen. Auch für die EU sind die Auswirkungen des „Brexit“ noch unabsehbar.

Die Nationalpopulisten aller Länder wittern Morgenluft. Marine Le Pen ruft schon zum finalen Ansturm auf die ungeliebte Union. Dagegen müssen wir alles daran setzen, dass der 23. Juni 2016 nicht als Anfang vom Ende der EU in die Geschichtsbücher eingeht. Wir haben keine Zukunft außerhalb der europäischen Gemeinschaft, jedenfalls keine gute.

Gleichzeitig müssen wir das britische Referendum als letztes Warnsignal ernst nehmen, uns mit den sozialen und kulturellen Spaltungen unserer Gesellschaften auseinanderzusetzen. Das Votum für den Brexit war auch eine Rebellion gegen die postnationalen Eliten, gegen offene Grenzen und offene Märkte. Damit sind wir schon mitten beim Thema unserer Konferenz.

Flucht und Migration haben eine große gesellschaftspolitische Brisanz. Die Flüchtlingsfrage wirkt in ganz Europa als Katalysator für nationalpopulistische Bewegungen und Parteien. Sie beschwören den Rückzug auf Tradition und Nation, schüren Ängste vor kultureller „Überfremdung“ und sozialer Konkurrenz. Migranten und Migrantinnen sind in Europa wie in den USA zum Symbol der Globalisierung geworden, gegen die man sich ebenso abschotten will wie gegen Importe aus China oder Mexiko.

Wir erleben gegenwärtig einen regelrechten „clash of civilizations“ – aber anders als Huntington dachte, findet er innerhalb der westlichen Gesellschaften statt. Der Kampf dreht sich um die Idee der multiethnischen, multireligiösen, multikulturellen Gesellschaft. Dieser Auseinandersetzung müssen wir uns stellen. Es geht um nichts weniger als die Verteidigung der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde.

Unser heutiges Thema lautet "Flucht und Migration: Wie schaffen wir Integration?". Wir schließen damit an unsere europapolitische Jahrestagung an, die sich Ende Mai mit der Misere europäischer Flüchtlingspolitik beschäftigte.

Während es dort vor allem um Alternativen zur vorherrschenden Abschottungspolitik ging, wollen wir uns in den kommenden zwei Tagen in erster Linie mit der Binnenseite von Flucht und Migration auseinandersetzen: Was bedeutet es, ein Einwanderungsland zu sein? Welche Chancen, Zumutungen, Anforderungen sind damit verbunden – aus der Perspektive der Ankommenden wie der Einheimischen?

So umstritten der Begriff der Integration auch sein mag: letztlich geht es um gleichberechtigte Teilhabe an Bildung, Arbeit, Kultur, Politik. Mit anderen Worten: um die Verwandlung von Fremden in Bürgerinnen und Bürger. In diesem Prozess verändern sich die Zugewanderten wie die Gesellschaft, die sie aufnimmt. Ohne Bereitschaft zur Veränderung gibt es keine gelungene Einwanderung. Das gilt für alle Seiten.

Gleichzeitig sollte klar sein, was nicht verhandelbar ist: die Grundwerte unserer Verfassung und die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ der Bundesrepublik. Aber auch die Demokratie ist keine statische Angelegenheit, sondern in stetem Wandel begriffen. Integration bedeutet nicht Anpassung, sondern die Gesellschaft mitzugestalten.

Keine Frage: Deutschland befindet sich mitten in einer großen demographischen Umwälzung, die das Land in vieler Hinsicht verändern wird. Schon jetzt sind 20 Prozent der Bevölkerung Migrantinnen und Migranten der ersten oder zweiten Generation. In den Schulen der großen Städte haben im Schnitt ein Drittel, manchmal die Hälfte der Kinder und Jugendlichen einen „Migrationshintergrund“.

Im letzten Jahr wanderten an die 800.000 Menschen nach Deutschland ein, um hier zu arbeiten und zu leben, die meisten aus Europa. Dazu kamen rund eine Millionen Flüchtlinge. Das sind beeindruckende Zahlen. Nach der Türkei hat die Bundesrepublik weltweit die meisten Schutzsuchenden aufgenommen. Nirgendwo wurden so viele Asylanträge gestellt – mehr als 440.000 in einem Jahr. Bund, Länder und Kommunen hatten alle Hände voll zu tun, um die Flüchtlinge aufzunehmen, sie unterzubringen und zu betreuen.  

Nach einigen Anlaufschwierigkeiten ist das besser gelungen als zu erwarten war. Eine entscheidende Rolle spielte die ebenso unerwartete wie begeisternde „Willkommenskultur“ - das ehrenamtliche Engagement von Abertausenden Bürgerinnen und Bürgern. Sie halfen, wo Hilfe gefragt war, und nahmen die Dinge selbst in die Hand. Das war praktische Solidarität und gelebte Mitmenschlichkeit. Viele engagieren sich bis heute.

Die anfängliche Hochstimmung ist inzwischen – wie überall in Europa - einer scharfen gesellschaftlichen Polarisierung gewichen. Wir haben es mit einem brisanten Mix von Ängsten, Vorurteilen und offenem Rassismus zu tun, gepaart mit hoher Gewaltbereitschaft. Laut Bundeskriminalamt gab es im letzten Jahr 924 gewaltsame Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte, darunter zahlreiche Brandanschläge.

Die Bundesregierung ist mittlerweile in den europäischen Mainstream eingeschwenkt, der vor allem auf die „Sicherung der Außengrenzen“ bedacht ist. Damit wir uns recht verstehen: eine effektive Kontrolle der Außengrenzen der EU ist Bedingung für die Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raums. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Es kommt allerdings sehr darauf an, WIE dieses gemeinsame Grenzregime aussieht: ob es auf Abschottung zielt oder eine kontrollierte Einreise ermöglicht.

Der Ruf nach Begrenzung bekam auch in Deutschland die Oberhand, als der Eindruck entstand, dass wir in der Flüchtlingsfrage in Europa weitgehend isoliert sind und die Regierung die Kontrolle über das Geschehen verloren hat.

Daraus muss man zumindest zwei politische Lehren ziehen. Erstens: Ein deutscher Alleingang in der Flüchtlingspolitik ist auf Dauer nicht mehrheitsfähig. Wir brauchen ein koordiniertes Vorgehen, wenn nicht mit allen, so doch wenigstens mit einigen anderen europäischen Staaten.

Zweitens: Es braucht ein Mindestmaß an politischer Regulierung, die in der Bevölkerung nicht den Eindruck aufkommen lässt, Zuwanderung sei eine Art Naturereignis, das sich jeder Steuerung entzieht. Es geht um einen dritten Weg jenseits von Abschottung und dem Ruf nach offenen Grenzen für alle und jeden.

Flüchtlings- und Migrationspolitik muss Hand in Hand mit Integrationspolitik gehen. Legale Zugänge nach Europa zu erweitern ist das eine. Das andere ist die Fähigkeit, Wohnungen, Kindergartenplätze, Bildungsangebote bereitzustellen und Wege in den Arbeitsmarkt zu öffnen.

Betrachtet man das letzte Jahr, ist die bisherige Bilanz eher ermutigend. Bund, Länder und Gemeinden, Zivilgesellschaft und Wirtschaftverbände haben einiges auf die Beine gestellt, um für einen Großteil der Flüchtlinge Unterkunft, soziale Betreuung, Sprachunterricht und berufliche Weiterbildung anzubieten. Auch wenn über die Finanzierung heftig gestritten wird, ist doch klar, dass wir heute in die erfolgreiche Integration von morgen investieren müssen.

Nach aktuellen Angaben des Hochkommissariats der Vereinten Nationen befinden sich gegenwärtig über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – so viel wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Davon sind rund zwei Drittel Binnenflüchtlinge. Die Antwort auf dieses humanitäre Drama kann nicht allein darin liegen, möglichst vielen Flüchtlingen den Weg nach Europa zu öffnen. Wir brauchen eine umfassendere Strategie, die bei der Bekämpfung der Fluchtursachen ansetzt.

Niemand sollte dazu gezwungen sein, seine Heimat zu verlassen. Das erfordert die Eindämmung von gewalttätigen Konflikten, die weltweite Förderung von Rechtsstaatlichkeit und „good governance“, bessere Bildungschancen und Berufsperspektiven für junge Menschen und eine kritische Revision der europäischen Außenwirtschaftspolitik gegenüber Entwicklungsländern.

Flucht und Migration sind selten monokausal, aber es gibt wenig Zweifel, dass etwa die Agrarexportpolitik der EU zur Zerstörung kleinbäuerlicher Existenzen in afrikanischen Ländern beiträgt.

Gleichzeitig muss Deutschland auch im eigenen Interesse eine zukunftsfähige Einwanderungspolitik entwickeln. Einwanderung ist keine Patentlösung für den demographischen Wandel. Aber ohne Zuwanderung im großen Stil wird das Erwerbspotential ab Mitte der 20er Jahre drastisch schrumpfen. Das wird voraussichtlich zu erheblichen Wohlstandsverlusten und Verteilungskonflikten führen. Auch für das kreative Potential einer Gesellschaft kann gelungene Einwanderung eine Wohltat sein: Vielfalt ist eine produktive Kraft.

Ist es legitim, das Eigeninteresse unserer Gesellschaft an gesteuerter Einwanderung zu betonen? Wenn man dafür politische Mehrheiten gewinnen will, wird man nicht nur altruistisch argumentieren können. Es ist nicht verwerflich, Zuwanderung als Prozess zu beschreiben, der beiden Seiten zu Gute kommt.

Anders liegen die Dinge in der Flüchtlingsfrage. Hier müssen wir darauf bestehen, dass Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, einen Anspruch auf Schutz unabhängig von allen utilitaristischen Motiven haben. Dennoch ist der Hinweis nicht verkehrt, dass auch Flüchtlinge ein Gewinn für unser Land sein können, wenn wir sie von Anfang an unterstützen, hier Fuß zu fassen.

Ein Einwanderungsgesetz ist überfällig, sowohl aus symbolischen als auch aus praktischen Gründen. Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Schritt, der mit dem alten, völkischen Verständnis von Nation bricht und Einwanderung zur Norm erklärt, nicht mit knappen Mehrheiten durchgesetzt werden sollte. Wir brauchen einen belastbaren Konsens für eine nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, der nicht bei jeder Wahl wieder in Frage gestellt wird.

Die Kehrseite regulierter Einwanderung ist eine Integrationspolitik, die allen Menschen faire Chancen auf Bildung, Arbeit und sozialen Aufstieg ermöglicht. Immigranten müssen die Möglichkeit haben, aus eigener Kraft voranzukommen und ein besseres Leben für sich und ihre Kinder aufzubauen. Die Schlüssel dafür sind Bildung, Arbeit und politische Teilhabe. Nur wenn dieser Fahrstuhl nach oben funktioniert, wird Einwanderung zur Erfolgsgeschichte.

Antworten auf diese Fragen erhoffen wir uns auch von unserer Kommission „Perspektiven für eine nachhaltige Flüchtlings- und Einwanderungspolitik“, der etwa 30 Mitglieder aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft angehören.

Ich wünsche uns allen inspirierende Debatten, neue Erkenntnisse und trotz der betrüblichen Nachrichten aus Großbritannien viel Spaß – jetzt erst recht!

 

Video-Mitschnitte des Kongresses "Wie schaffen wir Integration? Baustelle Flucht und Migration" am 24./25. Juni 2016



 

 

Mehr Informationen zum Kongress: