Nächstenliebe! Aber mit Grenzen.

Anna träumt von einem Polen ohne Abtreibungen und Migranten bzw. Migrantinnen. Menschenrechte schreibt sie groß, solange diese Menschen polnischer Herkunft sind.

Dieses Porträt enstand im Rahmen einer Studienreise nach Warschau. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „Medienvielfalt, anders“-Programms erzählen in ihren Geschichten von den verschiedenen Gesichtern Polens.

Anna S. ist gegen Abtreibung. Sie möchte nicht, dass ihr kompletter Name genannt wird. Dabei steht sie vollkommen zu ihrer politischen Meinung. Das „Recht auf Leben“ ist ihr wichtig und für dieses Recht geht sie gemeinsam mit der Bürgerinitiative „Stop Aborcji“ (Stoppt die Abtreibung) auf die Straße.

Dabei ist ihr egal, ob man diesen Menschen Fötus, Embryo mit Behinderung oder „Unfall“ nennt. „Wer sind wir, um darüber zu entscheiden, ob jemand anderes leben sollte oder nicht? Wie können wir uns ernsthaft die Frage stellen, ob die Gemütlichkeit unseres Lebens mehr Wert ist als das Leben eines anderen Menschen?“, fragt sich die 26-jährige fast täglich.

An der polnischen Grenze enden aber ihre Glaubensgrundsätze. Für das Recht von Kriegsflüchtlingen auf ein sicheres Leben möchte sie sich nicht einsetzen. Fragt man nach, wie sie zu Solidarität stehe, verengen sich ihre braunen Augen. Sie schaut kurz zur Decke, zupft das filigrane Kettchen zurecht, welches sie über einer schicken Bluse trägt, und spielt anschließend mit ihren zwei geflochtenen braunen Zöpfen.

Als sie antwortet, ist ihre Stimme sicher. „Natürlich muss man helfen. Solidarität ist wichtig, aber Definitionssache. Ich spreche von Solidarität gegenüber meiner Nation. Das bedeutet, dass ich unsere Grenzen schütze.“

In drei Fällen ist Abtreibung in Polen erlaubt

Im Herbst 2015 hat Anna S. der derzeit regierenden nationalkonservativen Partei PiS ihre Stimme gegeben. Die PiS produziert in der deutschen Presse vor allem negative Schlagzeilen, insbesondere aufgrund einer Reform des Verfassungsgerichtes, mit der die Exekutive immer mehr Macht über das Rechtssystem erhält.

In Polen profitiert jedoch insbesondere die ärmste Bevölkerungsschicht von den sozialpolitischen Maßnahmen der Regierung: Kindergeld, Mindestlohn, staatliche Wohnbauprogramme. Anna S. bewegte vor allem ein Versprechen: die legale Abtreibung komplett abzuschaffen.              

Zwei Jahre später ist Abtreibung in Polen immer noch gänzlich verboten und nur in drei Fällen ausdrücklich erlaubt: Wenn das Kind behindert auf die Welt kommen könnte, die Schwangerschaft Folge einer Straftat ist oder das Leben der Mutter durch die Geburt gefährdet ist. Diese Ausnahmen möchten Anna und die anderen Mitglieder von Stop Aborcji komplett aus dem polnischen Gesetzbuch streichen lassen.

Legitime Gründe seien das nicht, bloß Regeln, an die sich die Gesellschaft gewöhnt habe: „Das Gesetz hat eine große Macht, Orientierung darüber zu geben, was richtig und was falsch ist. Legitimieren wir einen Mord per Gesetz, dann gewöhnen sich auch die Bürger daran, denken, es sei moralisch richtig.“

Die Anti-Abtreibungs-Bewegung fokussiert sich auf das Lebensrecht des Fötus

Hält man die Aussicht auf ein schwerbehindertes Kind für einen nachvollziehbaren Grund einer Abtreibung, ist das laut Anna ein Zeichen dafür, dass das Leben von Menschen mit Behinderung nicht als gleichwertig angesehen werde. „Woher weiß man, dass diese Menschen unglücklicher sind? Wie kommt man darauf zu denken, Mitleid sei angemessen oder der Mord gar ein Gefallen?“

Auch wenn eine belastende Straftat, wie eine Vergewaltigung, zur Schwangerschaft geführt hat, fokussiert sich die Anti-Abtreibungs-Bewegung auf das Lebensrecht des Fötus: „Das Kind kann nichts für die Straftat, sein Leben ist dadurch nicht weniger wert. Nicht mal der Mutter wird mit der Abtreibung geholfen. Diese löscht weder das schreckliche Ereignis noch sorgt sie dafür, dass das Trauma verarbeitet wird.“

Im dritten Fall, in welchem das Leben der Mutter durch die Geburt in Gefahr schwebt, steht auch für Anna S. das Überleben der Mutter im Vordergrund. Lebensrettende Maßnahmen sollten zum Einsatz kommen – auch wenn das Kind dadurch stirbt. Allerdings gehöre zu diesen Maßnahmen, nicht präventiv abzutreiben.

„Das Leben eines Menschen ist es wert, Risiken einzugehen und sich Herausforderungen zu stellen. Will oder kann die Frau auf keinen Fall die Rolle der Mutter annehmen, kann sie das Kind zur Adoption freigeben. Es gibt immer eine Lösung, die nicht den Mord an einem Menschen inkludiert. Es ist besser sein Kind abzugeben, als es zu töten.“

„Die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland klingt für mich wie die Hölle auf Erden.“

Anna S. sagt, sie plädiere für mehr Menschlichkeit. Daher überrascht es, wie sie zur Flüchtlingspolitik steht: „Die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland klingt für mich wie die Hölle auf Erden.“

Sie hasse Migranten und Migrantinnen aber nicht, stellt sie schnell klar: „Ich kenne Menschen, die nach Polen immigriert sind. Teilweise sind es meine Freunde. Ich könnte sie nie hassen. Aber es ist einfacher Konzepte zu hassen als Menschen. Migration ist so ein Konzept.“

Anschläge wie in Brüssel, Berlin oder London gebe es nicht in Warschau, sagt sie. „Wir fühlen uns wohl mit einem Polen, welches polnisch ist. Die Furcht vor dem Unbekannten ist doch natürlich, oder? Wieso werden wir dafür verurteilt? Ich möchte mich sicher fühlen in meiner Heimat, der Gedanke an Migration fühlt sich nicht sicher an.“