30 Jahre Nationalparkprogramm

Hintergrund

Der Rückblick auf die umweltpolitischen Kämpfe am Ende der DDR macht nochmal deutlich, warum wir auch heute nasse Moore, dichte Wälder, klare Seen und Humus auf unseren Äckern brauchen.

Sächsische Schweiz

Das Wort „Ruhestand“ scheint für Professor Michael Succow ein Fremdwort zu sein. Trotz Corona hat er sich auch heute wieder auf den Weg zur Arbeit gemacht. Das bräuchte er jetzt im Mai 2020 eigentlich nicht mehr. Vor wenigen Wochen ist er 79 Jahre alt geworden.

Mit blauem Jeans-Jackett und kariertem Hemdkragen steht er im großen Besprechungsraum. Er lächelt, blickt durch das geöffnete Fenster in den Park und fragt die Anwesenden: „Ein Zaunkönig, hört ihr den?“

Michael Succow Stiftung

Hier in der Ellernholzstraße, nicht weit vom Botanischen Garten der Universitätsstadt Greifswald entfernt, steht die große Backsteinvilla, in der die Michael Succow Stiftung ihren Sitz hat.

Michael Succow ist einer der Hauptprotagonisten des Nationalparkprogramms im Osten Deutschlands. In den letzten Monaten der DDR im Jahr 1990 gelang ihm und weiteren Mitstreitern die Unterschutzstellung von fast 5 Prozent der Fläche des damaligen DDR-Territoriums. Am 12. September 1990 bestätigte der DDR-Ministerrat auf seiner letzten Sitzung die Schutzverordnungen für fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate und drei Naturparks. Das Programm war eine Initialzündung für viele weitere Schutzgebietsausweisungen in Deutschland in den letzten 30 Jahren.

Wenn man Michael Succow nach der Umweltsituation in der DDR im Jahr 1989 fragt, dann erinnert er sich sofort. Er spricht von Schwefeldioxid und absterbenden Wäldern, von überdüngten Böden, von riesigen Agrochemischen Zentren und von enormen Giftlasten aus der Massentierhaltung in landwirtschaftlichen Kombinaten. „Und das alles führte zu einem Niedergang der Gewässer, einer Eutrophierung und zu einer Degradierung der Äcker. Und damit auch zu einem Verlust der Biodiversität.“

„Nur der soll Subventionen bekommen, der unter seinem Acker ein trinkfähiges Grundwasser erzeugt,…“

Michael Succow

Er erinnert sich noch gut an seine Kindheit nach 1945 im Oderbruch, hier prägten intensive Naturerlebnisse sein weiteres Leben. Doch viele Tiere aus seiner Kindheit gibt es heute nicht mehr. „Das ist eine schrecklich lange Liste“, sagt er und sein Lächeln verschwindet. „Das ist ein Verlust an Schönheit, Vielfalt und auch an Heimat“.

Einer der Hauptschuldigen für die Zerstörung der Natur ist für Michael Succow die industrielle Landwirtschaft. Auf ihre Interessenvertreter ist er überhaupt nicht gut zu sprechen: „Solange ein Bauernverband die Regie führt, in enger Verknüpfung mit Konzernen und mit einem riesigen Lobbyapparat in Brüssel, da ist eine Agrarreform nicht zu machen.“ Deutschland spiele hierbei eine entscheidende Rolle.

Sein Vorwurf an den Bauernverband ist hart. Dieser habe nur „Gier nach Geld, Profit und Rendite im Kopf“. Die amtierende Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner kritisiert es ebenfalls. Und für eine Perversion hält er die aktuellen Agrarsubventionen für reinen Flächenbesitz. Succow: „Nur der soll Subventionen bekommen, der unter seinem Acker ein trinkfähiges Grundwasser erzeugt, über dessen Feldern noch die Lerche singt. Aber nicht ein Agrarier, der im Interesse der Agrarindustrie die Landschaft ruiniert.“

Heute nicht an ihrem Arbeitsplatz in Greifswald ist Dr. Franziska Tanneberger. Sie gehört zur jüngeren Generation der Succow

Stiftung. Die Diplom-Landschaftsökologin ist eine der beiden Frauen an der Spitze des Greifswald Moor Centrums.

Die Einrichtung ist eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik für den Themenbereich Moore – lokal wie auch weltweit. Gegründet wurde sie 2015 als Kooperation der Michael Succow Stiftung, der Universität Greifswald und des Vereins DUENE e.V. Franziska Tannebergers Arbeitsschwerpunkte sind die Ökologie und das Management von Niedermooren.

Ihr Homeoffice befindet sich auf der Insel Rügen, in einem kleinen Dorf am Rande des Biosphärenreservates Südost-Rügen. Von der Terrasse ihres Wohnhauses blickt sie auf einen kleinen Garten. Die Corona-Zeit bescherte ihr gerade ein besonderes Ereignis. „Ein Wendehals hat bei mir im Gemüsebeet Ameisen gejagt“, erzählt sie erfreut. Das habe sie bisher hier noch nicht erlebt.

Der seltene Vogel war 1988 in der Bundesrepublik der „Vogel des Jahres“. Wenig später wurde in der DDR der Vogelname für zahlreiche Personen zum Schimpfwort. Als „Wendehälse“ galten seit den Montagsdemos 1989 die, die zuvor das alte System aktiv unterstützt hatten und jetzt ihre Gesinnung schnell der aktuellen politischen Lage anpassten.

„Wir müssen zum richtigen Zeitpunkt aktiv werden.“

Franziska Tanneberger spricht mit Respekt von den Verdiensten Michael Succows und seiner Mitstreiter von vor 30 Jahren: „Ich glaube, was man heute viel klarer sieht als damals, das ist der Weitblick den sie hatten. Sie haben sich damals auch ein Stück freigemacht vom Mainstream, wie man heute sagen würde.“

In einer Phase des Zusammenbruchs des Ostens und der Aussicht auf den goldenen Westen „waren sie unheimlich geschickt, Zeitfenster zu erkennen.“ Und genau das werde auch heute gebraucht: „Wir müssen zum richtigen Zeitpunkt aktiv werden.“

Die Aktivitäten vor 30 Jahren, also die großflächigen Unterschutzstellungen während des Nationalparkprogramms 1990, hatten unbestreitbar nicht nur aus Naturschutzsicht sehr positive Effekte. Franziska Tanneberger ist überzeugt, dass viele Naturschätze im Osten Deutschlands bis heute schon verloren gegangen wären, wenn die Schutzgebiete damals nicht entstanden wären. Zudem zögen die Schutzgebiete heute viele Touristen an, sorgten damit auch für regionale Wertschöpfung im ländlichen Raum.

„...Klimaschutz im Zusammenhang mit Naturschutzprojekten wird in der Zukunft eine immer stärkere Rolle spielen.“

Jetzt im Jahr 2020, möchte Landschaftsökologin Tanneberger aber nicht nur zurückblicken: „In 30 Jahren ist 2050! Und das ist das Jahr, auf dass das Paris-Abkommen abzielt.“ Die Staatengemeinschaft habe sich hier weltweit auf gemeinsame Ziele geeinigt.

Doch etliche Zehntelgrade der maximal 1,5 Grad tolerierbaren Erwärmung seien schon heute erreicht. „Wir werden eine konkrete Verschlechterung unserer Lebensgrundlagen erleben“, befürchtet Tanneberger, wenn die gesetzten Ziele verfehlt werden. Sie ist fest davon überzeugt, dass das Thema „Klimaschutz“ im Zusammenhang mit Naturschutzprojekten in der Zukunft eine immer stärkere Rolle spielen wird.

Als Spezialistin für den Schutz von Niedermooren erklärt sie die künftigen Anforderungen so: „Wir müssen auf einem Teil unserer Böden, also auf den Moorböden, eine enorme Transformation schaffen. Hier ist in der Vergangenheit mit ganz viel Einsatz für die Landnutzung entwässert worden.“ Mittlerweile wisse man aus der Forschung zu Treibhausgasemissionen, dass diese Böden ganz starke Quellen von CO-2 sind.“

Dr. Franziska Tanneberger

Tanneberger: „Und das führt eben dazu, dass beispielsweise hier in Mecklenburg-Vorpommern ein Drittel der gesamten Treibhausgasemissionen aus Moorböden kommen.“ Bundesweit seien es 5 Prozent.

„Carbon Farming“ ist für die Forscherin jetzt eine Option. Mit landwirtschaftlichen Methoden wird dabei versucht atmosphärischen Kohlenstoff im Boden sowie in Kulturpflanzen zu binden. Ihre Verbündeten dafür sucht sie in der Landwirtschaft: “Da sind vor allem auch junge Landwirte heute gefragt, jetzt in diese Richtung zu denken.“

Umweltpolitische Errungenschaften waren damals schon abhängig vom sozialen Engagement der Zivilbevölkerung

Nur wenige Kilometer weiter auf der Insel Rügen wohnt Professor Hans Dieter Knapp. Schon im Herbst 1989 hatte er sich mit einer Bürgerinitiative öffentlich für einen Nationalpark an der Müritz eingesetzt, eine damals hochpolitische Forderung. Es ging sozusagen um eine „Transformation“ eines Staatsjagdgebietes zum Naturschutzgebiet.

In der DDR passte der unangepasste Biologe Knapp schon seit vielen Jahren nicht ins System. Mit insgesamt 30 IM (Inoffiziellen Mitarbeitern) überwachte ihn deshalb die Staatssicherheit; schnüffelte in Briefen, durchsuchte seine Wohnung. Besonders verärgert war die Stasi über Knapps Mitarbeit in oppositionellen kirchlichen Umwelt- und Friedensgruppen, wie zum Beispiel im Friedenskreis in Vipperow (Mecklenburg). Hier war zu diesem Zeitpunkt Markus Meckel, der spätere SPD-Politiker, evangelischer Pfarrer.

Bild von Professor Hans Dieter Knapp

Umweltdaten waren in der DDR ein Staatsgeheimnis. Als Wissenschaftler hatte Knapp deshalb bei seinen mit Daten und Fakten gespickten Vorträgen in der DDR sehr aufmerksame Zuhörer/-innen auf kirchlichen Treffen.

Im Dezember 1989 setzt er sich dann bei einem Besuch auf der Insel Rügen erfolgreich für die Umwandlung der naheliegenden Insel Vilm in eine Naturschutzakademie ein. Mit Vilm verbinden ihn wunderschöne Erinnerungen aus seiner Kindheit, bevor die Insel für die Öffentlichkeit in der DDR im Jahr 1959 gesperrt wird.

Bis 1989 durften sich dann nur noch ausgewählte SED-Funktionäre in den Ferienhäusern der Insel von den Problemen des Festlandes entspannen. Mit dem Ende der DDR drohte diesem Naturkleinod nun ein touristischer Ausverkauf.

Im Januar 1990 holt Michael Succow seinen Freund Hans Dieter Knapp in das im Umbruch befindliche DDR-Umweltministerium nach Berlin. Knapp hatte bereits Anfang Januar 1990 ein erstes Papier für das Nationalparkprogramm verfasst und liefert jetzt zum 31. Januar ein erstes fertiges Konzept. Succow schreibt später in einem Internet-Beitrag: „Dieses Nationalparkprogramm ist vor allem eine Schöpfung von Hannes Knapp und natürlich Lebrecht Jeschke.“

Tatsächlich waren es sehr viele Menschen, die dieses Nationalparkprogramm 1990 möglich gemacht haben. Immer wieder gab es später Kritik von ebenfalls am Projekt Beteiligten, dass sich die öffentliche Würdigung nur auf wenige Personen konzentriere. Auch im Naturschutz ist man sich offenbar nicht immer ganz grün.

Aus dem Bundesumweltministerium in Bonn unterstützte ganz erheblich der damalige Bundesumweltminister Prof. Klaus Töpfer das Projekt, auch gegen Widerstände aus den Landwirtschafts- und Verkehrsministerien in Ost und West. Der von ihm nach Berlin entsandte Jurist Arnulf Müller-Helmbrecht hatte entscheidenden Anteil an der Erarbeitung rechtssicherer Schutzgebietsverordnungen.

Hans Dieter Knapp war damals so etwas wie der besondere Reisekader des Nationalparkprogramms. Gut 50.000 Kilometer sei er 1990 als Ministeriumsmitarbeiter in wenigen Monaten ohne formalen Dienstreiseauftrag durch das ganze Land gefahren, zu Abstimmungen mit den Naturschützern vor Ort und Gesprächen mit den Regionalverwaltungen. Der WWF hatte ihm dafür ein Auto gesponsert und Succow versorgte ihn zusätzlich mit einem Tankscheckheft des DDR-Ministeriums. Knapp amüsiert sich noch heute: “Die haben später in der Verwaltung fast einen Herzinfarkt gekriegt als das herauskam.“

Wichtig waren ihm und seinen Mitstreitern neben den Nationalparks auch die damals entstandenen Biosphärenreservate und Naturparks zum Schutz hochwertiger Kulturlandschaften. Und er legt noch heute Wert auf die Feststellung, dass damals alles formal korrekt abgelaufen sei.

Die Zustimmung aller Kommunen und regionalen Landräte sei eingeholt worden. Oft sogar von ihm persönlich. An die letzte notwendige Unterschrift eines Bezirksbeauftragten erinnert er sich noch heute: „In Rostock, das war noch ein harter Brocken. Da bin ich nicht eher rausgegangen. Da habe ich ihm gesagt: ´Ich gehe hier nicht eher raus, bis ich den Stempel und ihre Unterschrift habe´ Als ich das dann hatte und im Auto nach Berlin saß, das war dann schon ein Hochgefühl.“ Ein zweites Hochgefühl kam mit dem Einigungsvertrag und der deutschen Einheit, Nationalparkprogramm inklusive.

Ist denn dieses Programm für ihn auch so etwas wie das „Tafelsilber der deutschen Einheit“, von dem Bundesumweltminister Töpfer damals sprach? Knapp: „Vielleicht ist es auch viel mehr. Vielleicht ist das auch was auf dem Teller der Tafel.“

Um umweltschädliche Praxen zu verhindern, muss sich die Rechtslage ändern 

Wichtig sind ihm heute vor allem die Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Dazu gehören für ihn zwingend die deutschen Ziele der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, die schon 2007 verabschiedet wurde. Was ihn schon seit mehr als 20 Jahren unglaublich im Naturschutz ärgert, das ist die Praxis in Wald-Naturschutzgebieten.

Fast etwas wütend kling er, wenn er sagt: „Hier muss endlich mit der Holzhackerei aufgehört werden.“ Knapp weiter: „Wenn wir im Naturschutzschutzgebiet um drei Schritte vom Weg abweichen und ein Blumensträußchen pflücken, dann ist das eine Ordnungswidrigkeit und wir können ein Bußgeld dafür bekommen. Aber wenn in denselben Wald ein Monsterfahrzeug halbmetertiefe Rinnen in den Waldboden pflügt, dicke Stämme herausholt und einen verwüsteten Wald hinterlässt, dann ist das rechtens.“ Das sei völlig absurd und keinem normalen Menschen begreiflich zu machen. Knapp: „Aber es ist die Praxis und die Rechtslage. Und das muss sich ändern.“

Die eigentliche Herausforderung ist für ihn aber das, was Michael Succow als Agrarwende bezeichnet: die Landschaft als Ganzes in einer Weise zu nutzen, die tatsächlich nachhaltig ist.

Vor seiner Haustür auf der Insel Rügen sieht es da nicht so gut aus. Hans Dieter Knapp blickt auf die fast verblühten konventionellen Rapsfelder, den überdüngten grau-blauen Weizen. Bio-Landwirtschaft vermisst er im Biosphärenreservat Südost-Rügen. Produziert wird auf der Insel mit voller Kraft für den Weltmarkt, dank naheliegendem Fährhafen sind die Transportkosten gering. Es wirkt fast so, als wenn er sich für diesen Teil seiner Heimatinsel etwas schämt. Die großen Dinge in der weiten Welt sind gelungen und vor der Haustür schmerzt die Realität.

„Moor muss nass, Wald muss dicht, Acker muss Humus, See muss klar.“

Das Nationalparkprogram sieht Knapp als Geobotaniker und Landschaftsökologe rückblickend trotzdem als großen Erfolg. Er schwärmt von den schönsten Stellen auf Rügen, von gelungenem Naturschutz in der Kulturlandschaft und sagt: „Ich verstehe Naturschutz im weitesten Sinne als Lebensschutz“.

Die Wissenschaftlerin Franziska Tanneberger vertraut in Netzwerke und befördert Kooperationen. Für sie gehört der Klimaschutz als globale Aufgabe mit dazu. Erfolgreicher Naturschutz ist für sie auch gleichzeitig Klimaschutz. Und mit Blick auf das Nationalparkprogramm sagt sie: „Wir haben heute auch eine Zuversicht als jüngere Generation, dass etwas geht. Zum richtigen Zeitpunkt und mit den richtigen Leuten kann man auf einen Schub viel erreichen. Das ist unheimlich wertvoll zu wissen, auch wenn man immer mal wieder Rückschläge einstecken muss.“

Michael Succow erinnert sich jetzt im Sommer 2020 wieder sehr an die Umbruchphase zum Ende der DDR und die damalige Kraft der Bürgerbewegung. Zuversicht mache ihm heute, dass sich junge Leute, wie „Fridays for Future“, dem aktuellen System verweigerten. Da Kraft zu geben, das sei für ihn persönlich und seine Stiftung eine wichtige Aufgabe.

Eine Agrarwende ist für ihn überfällig, ein ökologisches Wirtschaften in den Wäldern ebenso. Was jetzt notwendig ist, fasst er in vier Kernsätzen zusammen. Sie klingen fast wie ein Mantra, eine ewige Aufgabe: „Moor muss nass, Wald muss dicht, See muss klar sein, Acker muss Humus haben.“

Im Wissen darum wird sich Michael Succows Ruhestand wohl noch weiter verschieben.