Brasilien: „Die Verteidigung unseres Territoriums ist wichtiger als alles andere!“

Interview

Landrechte und Landkonflikte in Brasilien: Holz- und Landwirtschaft zerstören die Umwelt in Amazonien und im Nordosten Brasiliens. Die indigenen Aktivistinnen Tejubi Uru Eu Wau Wau aus Rondônia und Alice Pataxó aus Bahia berichten über ihren politischen Widerstand im Netz und auf der Straße.

Tejubi Uru Eu Wau Wau und Alice Pataxó
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Tejubi Uru Eu Wau Wau aus Rondônia und Alice Pataxó aus Bahia.

Das Interview fand am 23. Mai 2022 in Berlin statt. Beide Aktivistinnen nahmen im Rahmen der europäischen Kampagne “Our Food, Our Future” für ein starkes EU-Lieferkettengesetz an der Action Week vom 23.5.- 05.06.2022 teil. Diese wurde u.a. von der Christlichen Initiative Romero unterstützt und organisiert, die Teil der Initiative Lieferkettengesetz ist.

Mareike Bödefeld vom Lateinamerika Referat der Heinrich-Böll-Stiftung sprach mit Alice Pataxó und Tejubi Uru Eu Wau Wau.

Alice, als indigene Vertreterin hast du letztes Jahr auf der COP26 in Glasgow auf internationaler Bühne bereits über Landkonflikte, Umweltzerstörung und Klimagerechtigkeit in Brasilien gesprochen. Was bedeutet Aktivismus für dich und welche Rolle spielen die sozialen Medien um diese Themen voranzubringen? Schließlich hast du über 250.000 Follower*innen auf Instagram und Twitter, was gibt dir das für ein Gefühl?

Alice: Als ich angefangen habe soziale Medien zu nutzen, kannte ich den Begriff Aktivismus nicht - es ist ein sehr schöner Begriff. Ich fing an, die Geschichte meines Volks zu erzählen ohne erstmal daran zu denken, anderen etwas beizubringen. Irgendwann wurde mir klar, was ich da tue und das ich damit etwas erreichen kann. Ich habe verstanden, dass es etwas sehr positives ist, denn es gibt viele Menschen in Brasilien, die die indigene Bewegung unterstützen. Es ist toll, dass es auch außerhalb Brasiliens viele Follower*innen u.a. in Deutschland gibt. So gelangen die Stimmen der indigenen Gemeinschaften in andere Räume, in denen wir normalerweise nicht präsent sind. Das Netz bietet also eine unglaubliche Gelegenheit für Austausch und Lernen und ich hoffe, dass das Internet weiterhin ein Raum für ein Miteinander bleibt, in dem Debatten über politische und ökologische Themen geführt werden können. Diese Debatten und der Dialog sind wichtig – im Netz, aber auch vor Ort. Das ist es auch, was ich von der Reise nach Deutschland erwarte: wir wollen einen Dialog führen, nicht nur mit den Regierungen der europäischen Länder, sondern auch mit Aktivist*innen. Sie setzen sich ebenfalls für die Umwelt ein und sollten dabei auch indigene Rechte berücksichtigen. Es geht nicht nur um Informationsvermittlung, sondern auch darum, das Betroffene selbst zu Wort kommen. Als Aktivistin versuche ich unsere Probleme und Forderungen auf verschiedenen Ebenen sichtbar zu machen.

Ist es herausfordernd als indigene, junge Frau in sozialen Medien unterwegs zu sein? Wie wichtig ist deine Präsenz?

Alice: Es ist sehr schwierig, ja. Aber es ist Ausdruck von Stärke, dass so viele (indigene) Frauen diese digitalen Räume gemeinsam einnehmen und bespielen. Wir haben verstanden, dass es darum geht, sich einander politisch und persönlich für das Recht auf freie Meinungsäußerung zu unterstützen. Denn dies öffnet uns und anderen jungen Menschen Türen, besonders Frauen. Nicht nur in dem Sinne, dass wir Zugang zum Arbeitsmarkt haben und z.B. als Journalistin oder online Aktivistin tätig sind. Es öffnet uns auf Zugang zu öffentlichen Räumen innerhalb unserer Gesellschaft.

Bergen Plattformen wie Facebook und Instagram auch Gefahren? Wurdest du schon in den sozialen Medien bedroht?

Alice: Wir müssen sehr vorsichtig sein mit dem, was wir tun. Es geht zum einen inhaltlich um die Frage der Kohärenz und zum anderen ganz konkret um die Frage der eigenen Sicherheit [und Gesundheit]. Wenn ich aktiv bin – egal ob auf der Straße oder im Netz -  bin ich nicht allein. Ich habe unsere Anführerinnen bei mir, sie begleiten mich und meine Arbeit und ich übernehme wiederum eine gewisse Verantwortung für sie und ihre Arbeit. Ich denke, wir müssen uns gut untereinander verständigen, uns über digitale Sicherheit informieren und lernen, wie man digitale Medien als Werkzeuge richtig einsetzt. Diese Plattformen bieten ein enormes Potential und es kann viel damit erreicht werden. Es gibt zahlreiche Follower*innen, die unseren Content als sehr relevant betrachten. Wir müssen dennoch aufpassen, wie viel wir in den sozialen Medien machen und ab wann es zu viel Arbeit ist und eventuell nicht mehr gesund ist.

Alice Pataxó
Alice Pataxó, Aktivistin aus Bahia.

Ihr wart auch bei der letzten großen Demonstration in Brasília dabei, dem Acampamento Terra Livre. Ihr seid also auch auf nationaler Ebene organisiert?

Alice: Wir Indigenen sind an erster Stelle an der Basis organisiert. Bei uns in Bahia gibt es etwa die Basisbewegungen APOINME (Articulação dos Povos e Organizações indígenas do Nordeste, Minas Gerais e Espírito Santo) und MUPOIBA (Movimento Unido dos Povos e Organizações Indígenas da Bahia).

Sie sind im Moment enge Verbündete meiner Arbeit. Sie befassen sich hauptsächlich mit der Forderung indigene Territorien zu demarkieren. Nicht nur für die Pataxó, sondern für alle Indigenen in Bahia: Truká, Tupinambá, Pataxó, [Xukuru-]Kariri, Tuxá. Der Dachverband Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB) vereint uns dann alle auf Landesebene. Dort ist die Herausforderung, dass wir sehr diverse Völker mit verschiedenen Sprachen sind, aber: wir kämpfen alle für die gleiche Sache. Leider fehlt uns der Austausch mit den indigenen Völkern der Nachbarländer.

Darüber hinaus arbeite ich auch als Botschafterin für den WWF Brasilien. In Kürze werden wir in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen den Podcast „Hour of the Planet“ lancieren. Es wird der erste Podcast mit einer indigenen Gastgeberin. Dort werden Perspektiven von Aktivist*innen aufgezeigt, die über Klimafragen in Brasilien sprechen.

Tejubi: Wir haben auch unsere eigene Vereinigung, sie heißt Jupaú. Wir werden unter anderem unterstützt vom Fundo Casa Socioambiental oder auch von Kanindé, die mit uns beim Kontakt zu weiteren Verbündeten im Nichtregierungsbereich schauen. Darüber hinaus arbeite ich auch als Sekretärin der Associação Guerreiras Indígenas de Rondônia (AGIR). Die Öffentlichkeitsarbeit überlasse ich dabei aber anderen, ebenfalls jungen Leute aus der Gemeinschaft. Ich konzentriere mich auf andere Felder, um eine Anführerin, eine Frau für mein Volk zu sein. Mit ihrem Vertrauen im Rücken versuche ich den Kampf auf andere Weise zu führen.

Was ist schwierig in eurem Alltag im Territorium? Wie löst ihr diese Probleme?

Tejubi: Das größte Problem bei uns ist die Invasion. Der illegale Holzschlag und die Rinderzucht rücken immer näher, bis in die Schutzgebiete hinein. Für uns ist der Holzschlag besonders schwierig, weil wir von der Jagd und der Fischerei leben. Durch die Aktivitäten der Holzfäller und dem Lärm können wir nicht mehr in unmittelbarer Nähe jagen, es gibt gar keine Tiere mehr. Wir halten das auch für sehr gefährlich, denn wenn ein Indigener einfach loszieht und auf Holzfäller oder andere Jäger trifft, kann schnell etwas passieren. Sie holen nicht nur ein bisschen Holz raus, nein, richtig große Stämme, die mit großen LKWs abtransportiert werden. Hinzu kommt, dass sie auch Bäume fällen, deren Früchte wir nutzen und teilweise verkaufen, wie Nussbäume (castanhas).

Landwirte haben sich mit 6.000 Rindern auf einem Teil unseres Territoriums niedergelassen. Sie holzen es weiter ab. Die Fundação Nacional do Índio (FUNAI) hat uns in dieser Situation nicht unterstützt. Unsere Jugendlichen sind sehr versiert GPS und Drohnen für die Überwachung zu nutzen. Auch ich bin Teil der sogenannten Waldwache. Das heißt, wir beobachten für mehrere Tage was in unserem Territorium geschieht. Erwischen wir Eindringlinge, nehmen wir sie mit ins Dorf und rufen die zuständigen Stellen an, die sie dann festnehmen. Nach zwei bis drei Tagen sind sie jedoch erfahrungsgemäß wieder auf freiem Fuß.

Wie machen sich Umweltzerstörung oder im gleichen Zuge der Klimawandel in euren Gemeinschaften bemerkbar?

Alice: Ich kann leider einige bedrückende Beispiele nennen: Im [Dezember 2021 und] Januar 2022 gab es in meiner Region eine große Überschwemmung von der mehrere Städte betroffen waren. [Sie war die Folge von Starkregen und u.a. zwei Dammbrüchen.] Obwohl der öffentliche Notstand ausgerufen wurde, dauerte es lange, bis Hilfe eintraf. Menschen verloren Angehörige und ihre Felder auf denen sie zuvor Lebensmittel angebaut haben. Ich besuchte die Städte, um zu dokumentieren, was dort geschah, es war wirklich sehr traurig.

Interview mit Tejubi Uru Eu Wau Wau und Alice Pataxó
Interview mit den beiden Aktivistinnen Tejubi Uru Eu Wau Wau und Alice Pataxó.

In meiner Gemeinde [- Aldeia Craveiro im Munizip Prado in Bahia -] sehen wir täglich, wie der Wasserpegel des Flusses sinkt und sein Wasser immer dunkler wird. Der Wald (mata cilar) ist schon ganz ausgedünnt, weil die Viehzüchter dort einfach abholzen und wir das nicht verhindern können. Wir prangern das an, aber - um ehrlich zu sein - die Umweltgesetze in Brasilien funktionieren nicht. Eine Folge ist, dass unser Land nicht mehr das produziert, was wir traditionell essen. Als Volk (der Küste und) des Meeres essen wir beispielsweise auch Meeresfrüchte und Fisch. Ende 2019 gab es eine Ölpest vor der Küste Bahias, die Auswirkungen, nicht nur wirtschaftlicher Natur für die Menschen hatte, die vom Fischfang leben, sondern auch für die Menschen, die sich vom Meer ernähren.

In meinem Territorium kämpfen wir gegen (die Pflanzung) von Eukalyptus-Monokulturplantagen und es gibt viele Landkonflikte, die sich immer weiter zuspitzen. Das vorherrschende Entwicklungsmodell bedroht unsere Territorien massiv. Die Unternehmen zerstören ganze Ökosysteme: unsere Flüsse und unsere Wälder. Wir sind einer permanenten Bedrohung ausgesetzt, viele Freund*innen und Familienangehörige haben dabei schon ihr Leben verloren. Die territoriale Integrität indigener Territorien muss garantiert werden.

In Brasilien sind in diesem Jahr Wahlen. Gibt es Kandidaten und Kandidatinnen, die ihr unterstützt? Welche Hoffnungen habt ihr für die brasilianische Gesellschaft?

Alice: Ich sage immer, dass ich keinen Wahlkampf [für bestimmte Kandidaten oder Kandidatinnen] betreibe, sondern indigene Kandidaturen unterstütze. Selbstverständlich werde ich meine Stimme an bestimmte Personen vergeben und meinen Stimmzettel nicht ungültig machen. Im Gegensatz zu vielen Brasilianer*innen, die behaupten, wir hätten keine Optionen. Wir haben sehr wohl eine Wahl und können uns statt für eine Fortsetzung des Völkermords für mehr Menschenrechte und das Recht auf Leben entscheiden. Ich hoffe sehr, dass dieses Jahr Veränderung bringt. Es ist höchste Zeit.

 

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Transkribtion und Erstellung: Julia Ziesche und Mareike Bödefeld.