Israel und Palästina: „Frieden ist alternativlos“

Interview

Seit dem 7. Oktober 2023 eskaliert der israelisch-palästinensische Konflikt immer weiter. Warum utopisches Denken trotzdem wichtig ist, diskutieren ein jüdischer Israeli und eine palästinensische Israelin. Das Interview führte Michael Krämer für das Magazin Südlink.

Lesedauer: 8 Minuten
Foto: Eine Frau und ein Mann stehen nebeneinander vor einem Fenster. Die Frau links hat langes dunkles Haar und trägt ein schwarzes Jackett mit goldenen Knöpfen sowie eine weiße Bluse. Der Mann rechts hat eine Glatze, trägt eine Brille, ein blaues Sakko und ein weißes Hemd. Beide schauen freundlich in die Kamera und haben die Arme verschränkt.
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"Es ist nicht utopisch, von einer Lösung des Konflikts zu träumen." Rula Hardal und Gil Muciano in der Heinrich-Böll-Stiftung im Herbst 2024..

Das Interview führte Michael Krämer Anfang Oktober 2024. Übersetzung aus dem Englischen und Mitarbeit: Tobias Lambert. Es erscheint zusätzlich im kommenden Südlink 210 zum Thema „Utopien“.


Angesichts der aktuellen Lage in der Region ist es nicht gerade einfach, die Themen Israel, Palästina und Utopie zusammenzubringen. Wir wollen es dennoch versuchen. Welche Bedeutung hat utopisches Denken in Israel und Palästina?

Gil Murciano: Wir leben in einem Albtraum. Ein Manko der bisherigen Diskussionen über den Frieden ist, dass sie von oben nach unten geführt wurden. Utopie ist etwas, das man auf kollektiver Ebene fühlt, das aber auch mit der alltäglichen Erfahrung der Menschen zu tun hat. Psychologisch ist es für die Zivilgesellschaft in der Region sehr wichtig, alternative Zukunftsbilder zu entwerfen, die umsetzbar sind. Es erfordert eine Vorstellung davon, wo wir hin wollen.

Rula Hardal: Wir wissen, dass wir bessere Zeiten hatten als die Wirklichkeit, die Israelis und Palästinenser seit dem 7. Oktober erleben. Es waren keine optimistischen Zeiten, aber wir hatten einige Friedensprozesse und haben Verhandlungen geführt. Es ist nicht utopisch, von einer Lösung des Konflikts zu träumen. Wir haben gar keine andere Möglichkeit, sonst wird die Zukunft eine Katastrophe sein, keine Utopie.

Gil Murciano ist Vorsitzender des Think Tanks MITVIM (The Israeli Institute for Regional Foreign Policies). 

Rula Hardal ist Co-Direktorin der israelisch-palästinensischen Organisation und Bewegung „A Land for All – Two States One Homeland“.

Beide waren auf Einladung der Heinrich-Böll-Stiftung und des New Israel Fund Deutschland in Berlin, um an einer öffentlichen Veranstaltung zum Nahostkonflikt teilzunehmen (>> zum Mitschnitt).

Gil Murciano: Die Idee, über die Möglichkeiten zu diskutieren, ist für mich die Utopie. Es ist die Bewegung in Richtung eines Ortes, den man nicht wirklich erreichen kann, der Aufbau von etwas völlig Neuem. Es geht um einen alternativlosen Frieden, weil alle anderen Optionen totale Zerstörung sind. Es gibt eine Notwendigkeit, in der gegenwärtigen Situation zu träumen, um Entscheidungen treffen zu können, die eine Art Horizont eröffnen.

Es gibt eine Notwendigkeit, in der gegenwärtigen Situation zu träumen.

Was sind die wichtigsten Schritte, um eine neue Perspektive für Israel und Palästina zu schaffen?

Rula Hardal: Zunächst muss der Krieg beendet werden, aber leider sind wir noch nicht so weit. Stattdessen stehen wir vor einer weiteren Eskalation gegen andere Länder in der Region. 

Alle Akteure wissen, dass der Krieg eines Tages enden wird. Aber es macht einen Unterschied, ob der Krieg heute oder nach einer weiteren regionalen Eskalation endet. Und ob wir ihn in einem Jahr oder in zehn Jahren beenden. Ohne internationalen Druck wird das nicht funktionieren.

Gil Murciano: Ich sehe das etwas anders. Niemand wird den Konflikt lösen, wenn wir es nicht selbst tun. Alle großen Durchbrüche im israelisch-palästinensischen, im israelisch-arabischen Konflikt sind ohne die US-Amerikaner oder andere geschehen. Ob es sich nun um die frühen Phasen von Oslo oder den Besuch Anwar al-Sadats [ägyptischer Präsident zwischen 1970 und 1981, Anm. d. Red] in Israel handelt.

Rula Hardal: Die US-Regierung spielt aber auch eine wichtige Rolle, mit Zuckerbrot und Peitsche.

Gil Murciano: Natürlich, aber in erster Linie geht es um uns. Es geht um unsere Fähigkeit, die Utopie voranzubringen. Wenn wir den Krieg nur vorübergehend in einer Art Waffenstillstand stoppen, wird dies keine andere Dynamik schaffen. Das Hauptproblem ist heute der Aufbau einer palästinensischen Alternative im Gazastreifen. Es geht um eine Rückgabe des Gazastreifens an die Palästinenser, aber nicht an die Hamas, nachdem die internationale Gemeinschaft hier eine bestimmte Zeit lang eine Art multinationale Kraft eingesetzt hat. 

Einige regionale Akteure sind bereit, sich daran zu beteiligen, aber nur, wenn wir das Ziel definieren. Die Utopie ist zum Beispiel eine Friedenskonferenz, um gemeinsam mit allen relevanten Akteuren einen Marshallplan für Palästina, Israel und die Region zu entwerfen.

In den vergangenen Jahren war es den Palästinensern und den Israelis nicht möglich, den Konflikt zu beenden und eine Perspektive für ein besseres Leben zu entwerfen. Wie sollten sie es jetzt umsetzen können, mit der Netanjahu-Regierung und rechtsextremen Ministern auf der einen und Hamas auf der anderen Seite?

Gil Murciano: Menschen lernen aus Traumata. Sie treffen Entscheidungen, wenn sie in den Abgrund blicken. Die internationale Gemeinschaft hat die Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes und die Zweistaatenlösung jahrelang als ein „nice to have“ betrachtet. Mittlerweile aber spürt sie direkt die Auswirkungen des Konfliktes im gesamten Mittelmeerraum. Es liegt also nicht nur im Interesse der internationalen Gemeinschaft, sich zu engagieren, es ist eine Notwendigkeit.

Rula Hardal: Ich würde noch eine Sache hinzufügen, die mit Utopie zu tun hat. Es reicht nicht, den Krieg zu beenden, wir müssen auch wissen, was danach kommt. Denn die Konfliktverwaltung seitens der israelischen Regierungen, die wir während der letzten zwei Jahrzehnte gegenüber den besetzten Gebieten mit dem Schweigen der internationalen Gemeinschaft hatten, war ein Misserfolg.

Es reicht nicht, den Krieg zu beenden, wir müssen auch wissen, was danach kommt.

Wie beurteilen Sie die Rolle Deutschlands in dem Konflikt? 

Gil Murciano: Deutschland ist nach den USA das wichtigste Land für Israel. Es könnte eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, regionale Kräfte wie etwa Saudi Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate mit den europäischen Bemühungen zu verbinden. Deutschland verfügt über ein gewisses Maß an Integrität, die über viele Jahre hinweg aufgebaut wurde. Im Bezug auf die Justizreform in Israel hat Deutschland eine sehr klare Position vertreten, zu israelisch-palästinensischen Angelegenheiten weniger. Für die israelische Bevölkerung, nicht die Regierung, ist es wichtig, wenn Deutschland rote Linien zieht, etwa wenn es um internationale Sanktionen gegen gewalttätige Siedler geht. Deutlich über die Hälfte der Israelis unterstützen dies.

Rula Hardal: Die Sanktionen betreffen vier Siedler. Das ist reine Symbolpolitik. 

Deutschland ist ein sehr wichtiger Akteur, aber bisher sehr voreingenommen. Das schwächt die bedeutenden Rolle, die das Land gemäß seiner Geschichte und seinen Werten in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte spielen könnte.

Was sollte die deutsche Regierung konkret an ihrer Politik ändern?

Rula Hardal: Deutschland sollte sich mehr für Sicherheit und gleiche kollektive Rechte für Israelis und Palästinenser einsetzen. Es darf aber nicht nur um die israelische Sicherheit gehen, auch die Palästinenser haben ein Recht darauf. Wir brauchen eine Rückkehr zum internationalen Recht und zu den Beschlüssen der UNO sowie die Anerkennung eines souveränen palästinensischen Staates.

Gil Murciano: Die Anerkennung eines palästinensischen Staates unterstütze ich natürlich. Aber was folgt dann? Es darf nicht nur ein Slogan bleiben.

Sollte es in einem unabhängigen Staat nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordanland internationale Truppen geben, um die Situation zu regeln?

Gil Murciano: Eine internationale Truppe kann derzeit nicht funktionieren. Sie müsste mit den Israelis und den Palästinensern vor Ort zusammenarbeiten. Das Ganze müsste Teil eines umfassenderen Plans sein. Andernfalls wird es sich entwickeln wie im Libanon mit Unifil, als Totalausfall. Der Libanon ist ein klassisches Beispiel, für die Truppe gibt es keine Grundlage. Aber nehmen Sie die US-Truppen auf dem Sinai, die Teil des israelisch-ägyptischen Friedensabkommens sind. Das funktioniert schon lange, weil es in einen größeren Zusammenhang eingebettet ist.

Rula Hardal: Wir können uns keine halben Lösungen leisten. Wir müssen über all diese Schritte für die Zukunft nachdenken, für die Gegenwart und für die Zukunft.

Gil Murciano: Richtung Utopie.

Rula Hardal: Ja, im Rahmen eines Gesamtpakets, das alles beinhaltet, Sicherheit, internationale Kräfte oder arabische Kräfte, eine Lösung der israelisch-palästinensischen Frage und die Übergangszeit bis dahin.

Gil Murciano: Im Westjordanland muss Bezalel Smotrich [rechtsextremer Finanzminister Israels, der auch für den Siedlungsausbau im Westjordanland zuständig ist, Anm. d. Red.] daran gehindert werden, die palästinensische Wirtschaft zu zerstören und Sabotagemaßnahmen zu ergreifen. Außerdem geht es darum, Reformen zu fördern. Wir können nicht warten, denn der rechte Regierungsflügel schafft vor Ort gerade Fakten. Wir brauchen eine Reihe praktischer Schritte, die eine Zwei-Staaten-Wirklichkeit schaffen können.

Rula Hardal: Die deutsche Regierung pflegt gute Beziehungen zu den Vertretern der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Deutschland muss die PA schützen und verhindern, dass Smotrich und die israelische Regierung neben der Zweistaatenlösung und der palästinensischen Wirtschaft auch die PA zerstören.

Sie sind ein jüdischer Israeli und eine palästinensische Israelin. Wie schwierig ist es für Sie und Ihre Organisationen, sich gemeinsam für eine friedliche Lösung in Israel und Palästina einzusetzen? 

Rula Hardal: Diese Frage ist für mich relevanter. Ich bin eine Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft. Es ist derzeit schwierig, mit Israelis zu sprechen. Manchmal ist es aber noch viel schwieriger, mit Palästinensern zu sprechen. Ich fühle mich seit dem 7. Oktober bedroht, weil ich als Bürgerin des Staates Israel eine klare Position vertrete, weil die ganze Politik gegen die palästinensischen Bürger des Staates Israel die Menschen zum Schweigen bringen soll. Ich bin sehr vorsichtig bei der Wahl meiner Worte, weil der Raum der Demokratie in Israel unter dieser Regierung immer kleiner wird.

Trügt der Eindruck, dass Sie beide trotzdem etwas Hoffnung für die Region haben?

Rula Hardal: Ich mache diese Arbeit, weil es das Einzige ist, was mich mit meiner ganzen persönlichen Angst weiter atmen lässt. Ich bin nicht optimistisch, sondern sehr realistisch. Ich weiß, dass ich mich für einen Weg entscheide, dessen Ergebnisse ich vielleicht zu Lebzeiten nicht sehen werde. Zugleich bin ich privilegiert, denn ich besitze auch die deutsche Staatsbürgerschaft und könnte deshalb gehen.

Gil Murciano: Nach neun Jahren in Deutschland kam ich vor drei Jahren nach Israel zurück und habe mein Land kaum wiedererkannt. Ich bin sehr israelisch und ein Zionist im Sinne des linken Flügels. Mich schmerzt die Situation seit der Vereidigung der aktuellen Regierung. Und trotzdem: In der Arbeit unserer Organisation sind wir dem Machbaren verbunden, verlieren aber das Kreative nicht aus den Augen. Das bedeutet, ein bisschen über das Machbare hinauszugehen. Genau darin liegt vielleicht die Utopie.