Grüne Politik braucht eine republikanische Erzählung: Mut, Gemeinsinn und konkrete Angebote für alle statt Rückzug ins eigene Lager. Wer das Land zum Besseren verändern will, braucht Partner*innen und vor allem uns alle als aktive Bürger*innen.
Dieser Text basiert auf einer Rede von Jan Philipp Albrecht auf der 51. Bundesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen, 29. November 2025, Hannover.
Der Bedarf nach Orientierung ist groß bei der richtigen Strategie gegen die autoritären und rückwärtsgewandten Trends dieser Zeit. Viele Versuche sind gescheitert, den Menschen begründete Hoffnung und Zuversicht zu geben, dass demokratische, ja auch progressive, in die Zukunft gerichtete Kräfte die Lage für die Menschen spürbar verbessern. Klar, einen beträchtlichen Anteil daran haben Jene, die lieber in harten Kampagnen gegen demokratische Mitbewerber*innen schießen und mit dem Populismus liebäugeln. Allerdings wurde bislang noch kein politischer Kampf mit der Strategie gewonnen, die Härte des politischen Gegners zu beweinen. Doch jüngst wird wiederholt bewiesen: Es gibt eine Erfolgsstrategie!
Es hat etwas mit Mut, Zuversicht und Selbstvertrauen zu tun.
Es hat etwas mit Mut, Zuversicht und Selbstvertrauen zu tun. Wer sich ansieht, wie etwa der US-Demokrat Zohran Mamdani in New York City die Menschen begeistert, weil er den Anspruch formuliert, das Leben für alle Bürgerinnen und Bürger seiner Stadt konkret besser zu machen. Kinderbetreuung und öffentlicher Nahverkehr kostenfrei sowie bezahlbare Lebensmittel und Wohnungen für Alle. Das ist angesichts der seit Jahren eskalierten Preise in der Stadt ein Programm, das tatsächlich den meisten Menschen in Big Apple hilft. Auch in den Niederlanden können damit viele Menschen offensichtlich etwas anfangen. Der dortige Sozialliberale Rob Jetten hat in seiner Wahlkampagne ebenfalls auf kostenlose Kitas und mehr bezahlbaren Wohnraum gesetzt. Als ehemaliger Klimaminister fordert er zudem, dass alle Menschen in seinem Land von ihrem Fenster aus drei Bäume sehen können und alle Altbauten saniert werden sollen. Das Alles sind nicht nur mutige Ansagen – es sind vor allem Bedarfe, die den Menschen im ganzen Land und in der ganzen Stadt ein wichtiges Anliegen sind.
Der Mut und das Selbstvertrauen dieser beiden Kandidaten liegt nicht darin, Forderungen von einigen Wenigen gegen den Widerstand der Mehrheit zu vertreten. Sondern darin, konkret formulierte Verbesserungen für Alle in den Raum zu stellen. Verbesserungen, auf die sich eine Mehrheit einigen kann. Es ist das Ausgreifen von der eigenen Position aus in alle Teile der jeweiligen Gesellschaft. Nicht die eigenen Interessen der jeweiligen Parteien stehen Vorne, sondern das Wohl der Gemeinschaft. Seit der französischen Revolution ist dies das Staatsverständnis, dass sich in unseren Demokratien entwickelt hat: Eine Republik, bei der der Staat die Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger ist. Im Gegensatz zur Herrschaft einiger Weniger. In Zeiten von Autokratisierung und der Rückkehr des Oligarchentums braucht es solche politischen Kräfte, die wieder radikal auf die Republik setzten.
Die Erfolge von Mamdani und Jetten sind keine Zufälle. Hier zeigt sich das Potential eines zeitgemäßen Politikangebots für demokratische, zukunftsgewandte Parteien, die die Werte von Freiheit, Selbstbestimmung, Rechtsstaatlichkeit und Solidarität miteinander vereinen wollen. Grüne Politik steht mit ihren Traditionen und Grundwerten mitten in diesem Feld. Während SPD und Union noch immer Wunden leckend am Spielfeldrand stehen, haben die Grünen jetzt die große Chance, im Team mit anderen politischen und gesellschaftlichen Akteur*innen die Initiative zu ergreifen und mutig eine Gewinnerstrategie aufs Feld zu bringen. Die Menschen sind dazu mehr als bereit, sie wünschen sich im Lichte der erschreckenden Entwicklungen der letzten Jahre ein neues Angebot. Und bereits jetzt wird sichtbar, dass Grüne Politik bestens positioniert ist, um dieses Angebot erfolgreich zu machen: In Kopenhagen ist Sisse Marie Welling so zur Bürgermeisterin gewählt worden. Und hierzulande haben sowohl Martin Heilig in Würzburg als auch Tilman Fuchs in Münster eindrucksvoll bewiesen, wie mit einem an den realen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger ausgerichteten Wahlkampf die Rathäuser erobert werden können.
Anders als von politischen Gegnern vermittelt wollen sehr viele Menschen Grüne Politik.
Ein Abschied von der Idee des Ausgreifens in andere Milieus wäre in dieser Lage ein fataler Fehler. Anders als von politischen Gegnern vermittelt, wollen sehr viele Menschen Grüne Politik, wie etwa der Klimaentscheid in Hamburg eindrücklich gezeigt hat. Doch der Erfolg beim Klimaschutz, eine gerechte und zukunftsfähige Reform der sozialen Sicherung, der Erhalt des demokratischen Rechtsstaats und einer liberalen Gesellschaft: Dafür braucht es ein Angebot, das in vielen Teilen der Republik räsoniert. Und es braucht Mehrheiten. Statt sich unter den demokratischen und bündnisfähigen Parteien die Stimmen abzujagen, müssen die Menschen wieder für konkrete inhaltliche Projekte begeistert und bei einem gemeinsamen Aufbruch mitgenommen werden. Statt die Einzelinteressen von Wenigen nach vorne zu stellen sollte es wieder verstärkt um Verbesserungen gehen, die allen zu Gute kommen. Und statt um ein Weniger sollte es wieder viel häufiger um ein Mehr gehen. Grüne haben hier sehr viel zu bieten und sollten das selbstbewusst herausstellen. Es geht aber nicht ums Verkaufen, die Menschen wollen überzeugt werden.
Winfried Kretschmanns beachtliche 15 Jahre als Ministerpräsident begannen mit der „Politik des Gehörtwerdens“, die in Zeiten massiver Unsicherheiten und politischer Zielkonflikte dringlicher denn je scheint. Es wäre töricht, diesen Politikstil und diese Ausrichtung bündnisgrüner Politik zu Gunsten der wohlfeilen Verkündung einfacher Wahrheiten für die eigenen Kernwähler*innen aufzugeben. Die bündnisgrüne Partei-Erzählung 35 Jahre nach der Gründung von Bündnis 90 blendet noch zu häufig die Breite und Vielfalt in Ost und West aus. Genauso wie die fundamentalen Veränderungen im Zuge der Fusion beider Parteien und mit der Neuaufstellung einer Regierungspartei Bündnis 90/Die Grünen, die durch Kriegseinsätze und Sozialreformen ordentlich durchgeschüttelt wurde. Nicht nur diese beiden Prozesse machten die Bündnisgrünen stellvertretend für die gesamte Republik durch. Grüne Politik ist prägend für dieses Land gewesen und die Menschen erwarten, dass sie auch weiterhin an diese Tradition anknüpft.
Frühe Urgesteine der Partei wie Petra Kelly und Gerd Poppe, die für die Grünen und Bündnis 90 jeweils zu den ersten Bundestagsabgeordneten gehörten, haben sich – in zwei sehr unterschiedlichen Kontexten – für Grundwerte wie Frieden, Selbstbestimmung und Menschenrechte stark und verdient gemacht. Doch den Beiden war von Anfang an ebenfalls gemein, dass sie dies immer in Form der Einmischung in die Republik, in die Gesamtgesellschaft getan haben. Sie saßen oft auch mit Akteur*innen an einem Tisch, die ganz andere Ansichten und Lebensrealitäten hatten. Weil es ihnen stets um etwas viel Größeres ging, als um das eigene Parteiprogramm. Die Grünen und Bündnis 90 wurden gegründet, um die Republik zu verändern und nicht, um lediglich eine dauerhafte Interessensvertretung bestimmter Milieus oder Gruppen zu sein.
Die grüne politische Bewegung lebt von Kritik aus der Bevölkerung und von Erneuerung im Lichte der jeweiligen Realitäten.
Sich der Frage zu stellen, ob der politische Gestaltungsanspruch für die Republik einerseits und die eigenen Themensetzungen und Prioritäten andererseits im politischen Alltag zusammenpassen, ist kein Einknicken gegenüber rechten Kräften oder einem rückwärtsgewandten Mainstream. Es ist schlicht das, was Bürger*innen von Parteien erwarten. Die grüne politische Bewegung lebt von Kritik aus der Bevölkerung und von Erneuerung im Lichte der jeweiligen Realitäten. Und ja, auch im Lichte der wirtschaftlichen und geopolitischen Realitäten, die derzeit ein Umfeld begründen, in dem etwa die ökologische Transformation nur auf Basis eines glaubwürdigen Wohlstands-, Gerechtigkeits- und Sicherheitsversprechens sowie eine stabile Demokratie nur auf Basis von Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit Europas in der Welt denkbar ist.
In dieser Lage sollte Grüne Politik darauf setzen, dass die Bürgerinnen und Bürger ganz im Sinne von Hannah Arendt selbst Verantwortung für die Gemeinschaft übernehmen. Das heißt aber in der Konsequenz, auch in Zeiten eines angegriffenen Rechtsstaates eine kritische Haltung zum Status Quo der Republik einzunehmen und Freiräume für Ideen und Eigeninitiative von unten, ja gar einen Wettbewerb zwischen Akteuren, Gemeinden oder Regionen zu ermöglichen. Hierfür braucht es starke Kommunen und starke Institutionen des Gemeinwohls. Die Grünen haben alles, was es für diese befreiende Selbstermächtigung braucht, bereits von Beginn an in ihrer DNA: Mit dem Einsatz für alternative Wohnformen und selbst organisierte Genossenschaften im Westen sowie mit den Basisgruppen und runden Tischen der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung. Entscheidend ist, hierbei auf Menschen zuzugehen, die sich nicht bereits als Teil der grünen Bewegung begreifen.
Es geht um die Wirksamkeit der eigenen Ideen und Konzepte.
Es geht bei dieser selbstkritischen Betrachtung nicht um eine Beschneidung der eigenen Ambitionen als Partei und Bewegung. Es geht um die Wirksamkeit der eigenen Ideen und Konzepte. Wer das Land zum Besseren verändern will, braucht Partner*innen und vor allem uns alle als aktive Bürger*innen. Wider dem libertären Bild „jedermann seines Glückes Schmied“ bedarf es für den Aufbau eines zukunftsfähigen Gemeinwesens einen gemeinsamen öffentlichen Raum. Dafür müssen analoge und digitale Räume an jedem Ort und in jedem Teil der Gesellschaft aufgestoßen werden. Die Grünen können mit ihren mittlerweile 150.000 Mitgliedern in breiten Teilen der Gesellschaft die Partei sein, die genau das in die Hand nimmt. Sie sollten radikal auf das Wohl der Republik setzen. Das erfordert jetzt Mut, Zuversicht und Selbstbewusstsein in diesem Sinne. Aber hier gilt wie so oft: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.