Lviv: Kultur vereinigt! Statt immer nur Krieg

Lviv, Ukraine
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In Lviv sprüht die Kultur aus jeder Ecke

Im Ausland ist die ukrainische Kultur fast unbekannt. Die Menschen in Lviv wollen das ändern: Trotz des Krieges lebt die Kunst in ihrer Stadt wieder auf. Der letzte Teil unserer Serie über den neuen Alltag der Ukraine.

In Lviv sprüht die Kultur aus jeder Ecke. Wohl überlegte, provozierende und sauber ausgeführte Graffitis schmücken die Häuserwände, in Cafés streiten sich die Ankündigungsposter für Konzerte, Lesungen, Festivals und Workshops um die besten Plätze. Mitten im Zentrum verstecken sich in Hinterhöfen Kunstgalerien und Läden mit handgemachten Gewändern, neuartiger Musik oder Büchern. An einer Litfaßsäule wirbt ein Plakat für das Freiwilligenbataillon "Rechter Sektor", das im Osten des Landes als eines der aktivsten im Krieg beteiligt ist. Doch es ist längst überklebt von einem Poster, das das aktuelle Kurzfilmfestival in Lviv ankündigt.

Bei diesem Kurzfilmfestival schießt Olga die Fotos. Die junge Fotografin und Filmproduzentin macht das ohne Honorar, denn sie möchte damit die ukrainische Kultur unterstützen.  Ukrainische Schauspieler/innen und Sänger/innen unterstützt sie mit Porträtfotos oder Kurzfilmen. Mit Freund/innen organisiert sie regelmäßige Klassikkonzerte, die sie ebenfalls filmt und später veröffentlicht. Olga erklärt:

"Ich muss jeden Tag an den Krieg im Osten denken. Manchmal fühle ich mich schlecht, weil ich hier so ein schönes und gutes Leben führe, während im Osten die Menschen sterben. Aber ich weiß, dass ich an der Front nichts bringen würde, ich kann nicht gut schießen. Deshalb versuche ich mich hier in Lviv für die ukrainische Kultur einzubringen. Denn auch das ist wichtig – schließlich müssen wir Ukrainer wissen, wofür wir überhaupt kämpfen."

Wissen, wofür man kämpft – darüber redet auch Iryna, die 26-jährige Projektleiterin für Stadtentwicklungsworkshops.

"Die Ukraine hat so eine coole Kultur!", sagt sie. "Es gibt hier jetzt – aber auch schon früher, schon in den 20er Jahren – eine große alternative Szene mit tollen Dichtern, Schriftstellern, Künstlern – aber niemand kennt sie! Selbst die Ukrainer kennen ihre eigene Kultur kaum, weil sie so wenig gefördert und berühmt gemacht wird. Deshalb möchte ich dazu beitragen, damit wir überhaupt wissen, wofür wir kämpfen. Und damit sich auch die Soldaten freuen können, auf das, was sie hier in den friedlichen Teilen der Ukraine erwartet."

Auch im Ausland wird die ukrainische Kultur kaum gekannt oder anerkannt, meint Iryna.

"In diesem Konflikt bekommen wir nicht so viel Unterstützung von Europa. Ich glaube, das liegt auch daran, dass die Leute im Ausland so wenig über die Ukraine wissen. Für sie ist Ukraine so etwas wie ein dunkler Fleck. Vielleicht verstehen die Leute deshalb auch nicht die Signifikanz dieses Konflikts, da sie nur Russland als Kultur identifizieren können. Denn Russland hatte ja Tolstoi, Dostojevski, Rachmaninov, Tschechow, Brodsky... Aber Ukraine – wer ist das eigentlich, ist das nicht Russlands Peripherie? Das müssen wir Ukrainer jetzt ändern!"

Umgang mit Sowjetsymbolik

Auch Natalja findet, dass die ukrainische Kunst und Kultur im In- und Ausland schlecht repräsentiert ist. "Schuld daran sind wir selber", sagt sie, und möchte deshalb etwas dagegen tun. Natalja studiert Kunst- und Kulturmanagement und beschäftigt sich unter anderem mit Projekten zur Kulturvermittlung. Außerdem hilft sie, ein Festival der zeitgenössischen Kunst in Lviv zu organisieren. Für Natalja bedeutet Kulturvermittlung aber nicht nur, ein schärferes Bild der Ukraine zu malen. Kultur bedeutet für sie ein Raum für gesellschaftliche Diskussionen. Zum Beispiel das kürzlich erlassene Gesetz zur Dekommunisierung: Nach diesem Gesetz sind in der Ukraine nun unter anderem sowjetische Symbole sowie Zitate von Lenin und Stalin verboten. Natalja sagt:

"Natürlich ist dieses Gesetz sehr umstritten: Menschen, die in der Sowjetunion gut gelebt haben oder auch politische Aktivisten, die sich für totale Meinungsfreiheit einsetzen, lehnen es ab. Andere befürworten es, weil neue, falsche Mythen über Stalin entstehen und sie eine deutliche Abkehr von der Sowjetunion wollen. Das Problem aber ist, dass es um dieses wichtige Gesetz keine zivilgesellschaftliche Diskussion gab! Ganz egal, ob man das Gesetz befürwortet oder ablehnt: ein Gesetz, über das es keine Diskussion gab, ist immer falsch."

In der Zukunft möchte sie daher gerne mehr Räume für solche Diskussionen in der Ukraine schaffen – durch Ausstellungen, Debatten oder auch Kunstwerkstätten. Auch Vlodek arbeitet im Bereich Kulturmanagement, er ist Geschäftsführer einer Galerie für Moderne Kunst. Seit den Maidan-Protesten spürt er im kulturellen Bereich große Veränderungen:

"Noch vor zwei Jahren haben wir den politischen Druck auf uns gespürt. Unter Janukovich gab es eine idiotische Zensur, die wir zeitgenössischen Künstler zu spüren bekamen. Es gab sogar kleine Repressionen. Bei einer privaten Kunstausstellung gab es zum Beispiel den Fall, dass wegen irgendeiner 'Gefahr' die Ausstellung geschlossen werden sollte – aber es gab natürlich überhaupt keine Gefahr."

Deshalb sei der Maidan für Künstler/innen in der Ukraine gut gewesen. Und auch heute würden sie sich nicht entspannt zurücklehnen, sondern weiter dafür kämpfen, dass die Ukraine gut regiert wird: "Kunst bringt Menschen dazu, über Politiker zu lachen. Deshalb machen wir weiter Kunst, denn vor nichts haben Politiker mehr Angst, als wenn über sie gelacht wird", sagt Vlodek. Er erzählt, dass die ukrainische Regierung die zeitgenössische ukrainische Kunst nicht fördere. Teilweise könne er das verstehen, denn alles Geld würde jetzt in die Armee investiert werden, damit die Ukraine ein unabhängiges Land bleibt. Und doch sagt Vlodek:

"Es ist jetzt wichtiger denn je, auch der ukrainischen Kultur Aufmerksamkeit und Geld zu schenken. Denn wenn wir kein Geld an die Kultur geben, dann werden wir immer wieder erst Geld für die Revolution geben müssen, dann für Schutzwesten, dann für die Armee. Und dann wieder von neuem – das kann sich immer wieder und wieder wiederholen. Es ist doch gerade die Entwicklung von kulturellen Vereinigungen, von kulturellen Gruppen, von musikalischen und künstlerischen Festivals, die hilft, zu zeigen, dass wir mehr Gemeinsamkeiten haben als Unterschiede! Kultur vereinigt!"

Die Sprachfrage in Lviv – (k)ein Politikum?

Muttersprache der meisten Menschen, die in Lviv leben, ist Ukrainisch. Ihre Einstellung zur russischen Sprache ist sehr unterschiedlich. "Wir können zwar Russisch, aber wir wollen es wegen der aktuellen politischen Situation nicht sprechen", sagen Olya und Taras, zwei Studierende Anfang 20. Mit Ausländer/innen, die Russisch aber kein Ukrainisch sprechen, unterhalten Olya und Taras sich lieber auf Englisch. Viele junge Menschen in Lviv sprechen Englisch. Wenn es diese Ausweichmöglichkeit auf Englisch nicht gibt, werden manche Unterhaltungen schwierig. Auf dem zentralen Platz auf der Straße der Freiheit sind Zelte politischer Parteien aufgebaut. Der ältere Herr, der das Zelt der pro-ukrainischen Partei "Volksbewegung" betreut und Parteizeitungen verteilt, ist ganz begeistert, dass wir aus Deutschland angereist sind, und gibt uns eine Zeitung und als es anfängt zu regnen, dürfen wir uns bei ihm unterstellen und er bietet Tee aus seiner Thermoskanne an. Wir erklären, dass wir leider nur Russisch sprechen und versuchen, etwas über die Inhalte der Partei herauszufinden, doch er antwortet nur auf Ukrainisch. Ein anderer Mann, der sich im Parteizelt ebenfalls vor dem Regen stützt, unterhält sich auf Russisch mit uns. Der Parteivertreter rügt ihn:
"Hier wird nur Ukrainisch gesprochen!"
"Aber die Mädchen verstehen doch kein Ukrainisch, dann muss man ihnen die Dinge auf Russisch erklären!"
"Dann reden wir trotzdem auf Ukrainisch, und Stück für Stück werden sie schon etwas verstehen."

Für die Filmemacherin Olga hat sich ihre Einstellung zur russischen Sprache geändert, seit der Krieg in der Ostukraine ausbrach. "Früher war es ganz normal für mich, dass ich Leute Russisch reden höre", sagt Olga.

"Aber jetzt macht es mir Angst. Ich will das gar nicht, und ich habe nichts gegen Leute, die Russisch sprechen oder gegen Russen. Aber ich kann nichts dagegen tun, dass es mir Angst macht."

Viele Lviver/innen sind überrascht von diesem Verhalten ihrer Mitbürger/innen. "Alle Menschen hier können beide Sprachen! Wenn mich jemand etwas auf Russisch fragt, dann antworte ich auch auf Russisch", sagt Natalja. Auch der Journalist Juri Durkot kennt in seinem Umfeld niemanden, der nicht mehr auf Russisch reden will: "Die Ukraine ist zweisprachig, und daran wird sich auch nichts ändern", sagt er. Sprache sei auch nicht ausschlaggebend für die politische Einstellung: "Die Orangene Revolution und der Euromaidan waren zweisprachig. Die Armee, die Freiwilligenbataillone, die vielen ehrenamtlich Engagierten – alle sind zweisprachig. Sprache spielt keine Rolle im Kampf gegen Russland."

Neuer Patriotismus bislang wenig reflektiert

"Ehre der Ukraine, Ehre den Helden" – ein Slogan, der in vielen Städten der Ukraine auf Demonstrationen in Sprechchören zu hören ist. In Lviv stolpern wir mitten in eine Demonstration, die ukrainische Held/innen ehren soll. Etwa hundert Menschen laufen durch die Dämmerung. Sie tragen Fackeln, ukrainische Nationalflaggen und die schwarz-rote Flagge der ukrainischen Widerstandsarmee aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Teilnehmenden sagen, dass sie ukrainischer Helden gedenken. Derer, die im Zweiten Weltkrieg Widerstand leisteten und derer, die auf dem Maidan gestorben sind. "Ehre der Ukraine, Ehre den Helden!"

Ein Slogan, bei dem in deutsch sozialisierten Ohren Alarmglocken schrillen. Doch Juri Durkot gibt zu bedenken: "In Deutschland lebt ihr ja eher in einer postnationalen Welt. Aber die Ukraine ist eine verspätete Nation, die sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt definiert hat. Deswegen spielen Werte wie Patriotismus und der Begriff der Nation hier immer noch eine Rolle", sagt der Journalist. Seiner Ansicht nach ist die Diskussion um Patriotismus in der Ukraine schwierig und wird bisher kaum geführt. Dabei spiele auch eine einseitige, unreflektierte Geschichtsanschauung eine Rolle:  "Die Mitglieder der ukrainischen Widerstandsarmee werden als Freiheitskämpfer verehrt. Dass es unter ihnen auch solche gab, die Schweinerein angestellt haben, wird oft ausgeblendet." Dennoch sieht er derzeit nicht die Gefahr, dass der oft anzutreffende Patriotismus in gefährlichen Nationalismus umschlägt.

"Der Patriotismus ist da, aber dabei geht es den Menschen darum, das Land zu erneuern. Das war die Forderung des Maidan – der Ruf nach Systemerneuerung. Jetzt haben wir immer noch kein neues System, aber zumindest haben sich die Leute damit nicht abgefunden."

Zu diesen Leuten gehört auch Iryna. "Im Ausland werden diese Rufe 'Ehre der Ukraine, Ehre den Helden' oft als nationalistisch verstanden, aber wenn jemand das heute ruft, dann ist er kein Nationalist“, sagt sie. Iryna erklärt, was er für sie bedeutet: Sie hat auf dem Maidan in Kiew demonstriert, monatelang pendelte sie zwischen der Hauptstadt und Lviv. "Mein guter Freund ist dort gestorben – er wurde auf dem Maidan erschossen." Kurz werden ihre Augen rot, dann richtet sie sich auf ihrem Hocker auf.

"Für mich ist er jetzt ein Held. Und für mich haben wir die Ukraine auf dem Maidan neu erfunden! Wir haben dort jeden Tag gestanden, um etwas zu verändern. Das sind die Sachen, an die ich denke, wenn ich diese Rufe höre, nichts anderes." Dennoch sieht die junge Frau es kritisch, dass viele Menschen sich unreflektiert vom Patriotismus mitreißen lassen.

"Eigentlich hat dieser Ruf eben eine andere Geschichte. Und ich denke, wir sollten generell anfangen, besser darüber nachzudenken, was wir mitrufen. Denn sonst kann man Menschen so leicht manipulieren. Aber in diesem Fall sehe ich nicht, dass von diesem Ruf eine Gefahr ausgeht."

 

Donata Hasselmann und Miriam Kruse sind Stipendiatinnen der Heinrich-Böll-Stiftung. Sechs Wochen lang reisten sie durch die Ukraine, sprachen mit Menschen und berichteten für uns über den neuen Alltag in der Ukraine aus Kiew, Kharkiv, Dnepropetrovsk und Odessa. Alle Beiträge finden Sie auch in unserem Dossier über die Krise in der Ukraine.