»Ansichten eines Clowns« (1963) – »Gruppenbild mit Dame« (1971)

Anfang Mai 1963 wurde der als Abrechnung mit dem Katholizismus und der restaurativen Politik der Bundesrepublik rezipierte Roman Ansichten eines Clowns, mit dessen Ausarbeitung Böll im März 1962 begonnen hatte, an den Buchhandel ausgeliefert.

Die bundesrepublikanische Situation, in der Böll Ansichten eines Clowns verfasste, war zum einen bestimmt durch das 1961, nach dem Verlust der absoluten Mehrheit der CDU/CSU bei den Bundestagswahlen, eingeleitete Ende der Adenauer-Ära. Wenn auch erst einige Monate nach Erscheinen des Romans, im Oktober 1963 durch den Übergang der Regierungsverantwortung von Konrad Adenauer auf den »Architekten des deutschen Wirtschaftswunders«, Ludwig Erhardt, vollzogen, bestimmte die Auseinandersetzung das politische Klima, das Böll in einer in der Zeit unter dem Titel Briefe aus dem Rheinland veröffentlichten Serie von neunzehn Satiren, die unter dem Pseudonym Lohengrin erschienen, glossierte. Darüber hinaus markierten der Beginn des Mauerbaus am 13. August 1961 sowie im Oktober 1962 die sog. Spiegel-Affäre entscheidende politische Ereignisse. Gerade die Spiegel-Affäre machte deutlich, das der gegenüber dem ›Osten‹ ›freie Westen‹ so frei auch nicht war.

Hans Schnier, ein protestantischer Industriellensohn, verlässt angewidert von der Atmosphäre in Bonn sein Elternhaus und arbeitet einige Jahre als Clown. In dieser Zeit lebt er mit Marie Derkum zusammen, die ihn in katholische Kreise »einführt«. Marie verlässt Hans jedoch, als ihr das uneheliche, staatlich- und kirchlich nicht legitimierte Zusammenleben immer unerträglicher wird; sie heiratet einen »führenden« Katholiken. Damit beginnt der künstlerische Niedergang des Clowns, der zu Beginn der Romanhandlung von einer abgebrochenen Tournee nach Bonn zurückkehrt. In den folgenden vier Stunden, die die erzählte Zeit des Romans umspannen, wird die Geschichte Schniers und seiner Familie, seine Beziehung zu Marie und die von Bigotterie bestimmte Haltung der »Nachkriegschristen« in Reflexionen und Telefondialogen erzählt. Am Ende sitzt der Clown bettelnd vor dem Bahnhof und wartet, dass Marie zu ihm zurückkehrt.

Radikal gestaltete Böll mit den ›Ansichten‹ einen Ich-Roman, der die Frage nach den Chancen der Selbstverwirklichung des Individuums in die Perspektive subjektiver Realitätserfahrung stellt. Bestimmt werden die ›Ansichten‹ durch die Figur des ›Clowns‹, der im Roman pars pro toto für den Künstler steht, der also mit der Realität als ästhetischem Material umgeht, jedoch nicht im Sinne ihrer Widerspiegelung, sondern – in ästhetischer Verarbeitung – im Sinne des Sichtbarmachens, des Deutens. Die Frage nach der individuellen Verwirklichung wird so kombiniert mit der Frage nach der Rolle und Funktion der Kunst überhaupt. Dabei gilt Schniers Kampf den »abstrakten Ordnungsprinzipien« – verkörpert nicht nur in der katholischen Kirche, sondern in jeder Form institutionalisierter Macht-, die das humane und individuelle immer wieder in Frage stellen. Der Versuch, das individuelle, nicht schon integrierte zugleich als Durchbruch durch das geltende Allgemeine zu zeigen, scheitert im Roman an den real vorhandenen gesellschaftlichen Zwängen: Hans Schnier findet sich am Ende vereinsamt und als nach gesellschaftlichen Begriffen ›heruntergekommener‹ Außenseiter auf der Bonner Bahnhofstreppe. Eine über dieses Scheitern hinausweisende Perspektive bindet sich jedoch an seine Existenz als Clown bzw. als Künstler, also in der Darstellung des sozial Abfälligen, im Engagement für das von der Gesellschaft »abfällig Behandelte«, um es »in seiner Erhabenheit darzustellen«. Hierauf deutet insbesondere das von Böll dem Neuen Testament entnommene Motto des Romans: »Die werden es sehen, denen von ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben« (Röm 15,21).

Ansichten eines Clowns gilt als Roman, in dem Bölls Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche ihren Höhepunkt erreichte. Böll selbst hat zu dieser Deutung beigetragen. Seiner eigenen Auskunft nach versetzte er den Clown mit seiner Liebesgeschichte in ein »Labyrinth«, aus dem er keinen Ausweg findet – »und das Labyrinth, und das kann ich [d.i. Böll] in dem Fall wirklich sagen, weil ich den Zusammenhang, den Kontext kenne, ist der politische deutsche Katholizismus«. Entsprechend zurückweisend reagierte die Kritik von katholischer Seite, zumal 1963 die (schriftstellerische) Auseinandersetzung mit dem Nachkriegskatholizismus in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte. Hatte schon Rolf Hochhuths Drama über das Versagen des Papstes in der Frage der Judenverfolgung während der Nazizeit, Der Stellvertreter, uraufgeführt im Februar 1963 in Berlin, für Zündstoff gesorgt, ist es jetzt das parallele Erscheinen des Clowns und eines Essaybandes von Carl Amery, Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute (mit einem Nachwort von Heinrich Böll), die zu einer bis dahin nicht gekannten heftigen Reaktion der Deutschen Bischöfe auf literarische Werke führt. In einem von allen Kanzeln verlesenen Hirtenbrief wird den Autoren eine »häretische Vorliebe« für ein »wirklichkeitsfremdes Idealbild der Kirche«‚ eine »eigentümliche Neigung zum Pessimismus« und »zersetzende Kritik« vorgehalten.

1975 wurde der Roman unter der Regie von Vojtech Jasný mit Hans Griem in der Rolle des Clowns verfilmt.

Gruppenbild mit Dame

Unter dem Arbeitstitel ›Günstlinge des Schicksals‹ nahm Böll im August 1970 die Arbeit an seinem Roman Gruppenbild mit Dame auf. Geplant war ein auf vier größere Kapitel angelegter Text, von dem letztlich jedoch nur das erste Kapitel, das die Überschrift ›Abfall‹ trug, ausgearbeitet, d.h. zum Roman ausgeweitet wurde.

Im Mittelpunkt des Romans steht Leni Pfeifer, geb. Gruyten als Person, die »die ganze Last der Geschichte zwischen 1922 und 1970 auf sich genommen hat« – so Böll im Gespräch mit seinem damaligen Lektor und Schriftstellerkollegen Dieter Wellershoff. Ihre Lebensgeschichte wird durch einen Verfasser (im Text mit dem Kürzel »Verf.« vertreten) in einer Vielzahl von Berichten und Gesprächen mit über fünfzig Zeugen rekonstruiert: Als Klosterschülerin erzogen, Mitglied der NS-Mädchenorganisation, muss Leni, nachdem ihr Vater wegen eines Schwindelgeschäfts verurteilt worden ist, während des Krieges in einer Kranzbinderei arbeiten. Dort verliebt sie sich in einen sowjetischen Kriegsgefangenen, Boris Koltowski, mit dem sie zusammen einen Sohn, Lev, bekommt. Am Ende des Krieges verunglückt Boris, der mit einem deutschen Wehrpass in Kriegsgefangenschaft gerät, tödlich in einer Kohlengrube. Es wird berichtet, wie Leni seitdem zu einer schweigenden »Statue« erstarrt ist. Sie lehnt jede Hilfe ab, arbeitet weiter in der Gärtnerei und erzieht ihren Sohn zur Leistungsverweigerung. In der Gegenwart 1970 lebt sie mit einem türkischen Gastarbeiter zusammen und soll von Verwandten aus ihrer Wohnung vertrieben werden. Es bildet sich aber ein »Helft-Leni-Komitee« aus Freunden, die das verhindern können.

Böll selbst hat in einem Interview mit Dieter Wellershoff auf die Nähe des »Clowns« zur Protagonistin des Gruppenbild-Romans, Leni Gruyten, hingewiesen. Beide vereinsamen – Leni über einen Zeitraum, der sich über 30 Jahre hinzieht; bei beiden schwinden zunehmend die Kommunikationsmöglichkeiten mit der Umgebung. Ein gravierender Unterschied besteht jedoch in den Schlussbildern der Romane. Während der Clown-Roman resigniert und nur mit der Hoffnung auf ein glückliches Ende schließt, realisiert der Gruppenbild-Roman diese Hoffnung: Die Vertreibung Lenis aus ihrer Wohnung wird durch eine Aktion des ›Helft-Leni-Komitees‹ verhindert, ihre soziale Isolation aufgehoben. Damit verweist der Roman auf ein soziales Handlungsmodell, das in seinem sozialen Spektrum (von ausländischen und deutschen Müllwerkern, Nachbarn und Freunden) gegen die Gefahr gewappnet ist, durch Verfestigung und eigene Institutionalisierung Ursache neuer gesellschaftlicher Zwänge zu werden.

Der Roman Gruppenbild mit Dame galt bei seinem Erscheinen als epische Summe des bis dahin vorliegenden Werks, und er galt als mitentscheidend für die Verleihung des Literaturnobelpreises 1972 an Heinrich Böll.

Heinrich Böll: »Eine deutsche Erinnerung«

Stipendiaten der Heinrich-Böll-Stiftung über Heinrich Böll