Zigaretten als Leitmotiv in Heinrich Bölls Kurzprosa

Analyse

Es gab nur wenige Motive, auf die Heinrich Böll wirklich fixiert war: Züge, Bahnhöfe, der Krieg. Die größte Faszination aber hatten die Zigaretten. Warum? Die Antwort des nigerianischen Schriftstellers Toni Kan Onwordi.

Hand mit Zigarette
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Zigaretten als Motiv des literarischen Werks

Als ein Mann, der den berühmt gewordenen Satz prägte, dass Einmischung die einzige Art sei, „realistisch zu bleiben“, jemand, der in einer Schriftstellerlaufbahn, die beinahe vier Jahrzehnte umspannt, fast ein Dutzend Romane und mehr als zehn Dutzend Kurzprosastücke geschrieben hat, war Heinrich Böll von den unterschiedlichsten Dingen fasziniert und mit ihnen beschäftigt. Darunter so verschiedenartige Themen wie Kindheit und Schule („Was soll nur aus dem Jungen werden?“), Freiheit und Redefreiheit, Krieg und seine Auswirkungen auf Soldaten und Soldatenwitwen („Der Zug war pünktlich“ und „Haus ohne Hüter“), oder Sensationsjournalismus und die Zerstörung des Einzelnen („Die verlorene Ehre der Katharina Blum“), um nur einige zu nennen. Heinrich Böll hatte einen wachen Blick für das Detail, einen Blick, der präzise die Schwächen, Mängel und Fehlschläge jener Menschen erfasste, die gegen Mächte kämpfen, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen. Er hatte ein hellhöriges Ohr für das gesprochene Wort und die fein abgestuften Kadenzen des Ungesagten. Er war ein Mann, dem kaum etwas entging, und seine Kurzgeschichten und Erzählungen sind Momentaufnahmen, sehr farbige Vignetten des Lebens, der Menschen und der spezifischen deutschen Welt und Wirklichkeit seiner Generation.

Aber es gab nur wenige Motive, auf die er wirklich fixiert war. Dazu gehören Züge und Bahnhöfe, Krieg und der Krieg, und schließlich Zigaretten.

In Heinrich Bölls Kurzprosa hören die Züge niemals auf, über die Gleise zu rumpeln und langsam in Dörfer oder so vertraute Städte wie Dresden oder Dortmund einzurollen, oder aber in weit entlegene Orte mit so fremdartigen Namen wie Nikopol, Jassy oder Kalinovka. Häufig sind Züge die vernehmbaren und doch unaufdringlichen zweiten Erzählstimmen vieler seiner Kurzgeschichten.

Reisen mit dem Zug sind deshalb in Heinrich Bölls Kurzprosa stellvertretend für die Reise des Menschen ins Ungewisse. Sie sind die mythische Fähre mit dem vermummten Charon und seiner nie versiegenden Fracht: die Unglückseligen und Verdammten, die über den Acheron in die Unterwelt übergesetzt werden. In der Erzählung „Der Zug war pünktlich“, Heinrich Bölls erster größeren Veröffentlichung, steigt Andreas in den Zug, und sobald der Zug sich in Bewegung setzt, macht er den Mund auf und schreit: „Ich will nicht sterben, aber das Schreckliche ist, daß ich sterben werde...bald!“

Bahnhöfe stehen andererseits stellvertretend für Orte der Rast, aber es sind Orte der Rast, die weder Ruhe noch Trost bieten. Sie sind die Stätten, an denen „die sonoren Stimmen“ die Unglückseligen und Verdammten mit ihrem kalten und unpersönlichen Klang, frei von Gefühlen, an die Verabredung mit dem Tod und dem unentrinnbaren Schicksal gemahnen.

Bahnhöfe werden deshalb Meilensteine auf dem Weg in die Verdammnis, wo jene „sonoren Stimmen“ gesichtsloser Menschen, deren Beschäftigung nicht ihrem Bildungsniveau entspricht, wie wir in „Hier ist Tibten“ lernen, den Menschen immer sagen, wo sie sind.

Heinrich Böll war fasziniert vom Krieg, aber er teilte nicht die romantisierende Sicht auf den Krieg wie Ernest Hemingway oder Stephen Crane. Sein Blick auf den Krieg zeigt das Traurige und Erbärmliche daran. In allen sechs Kriegsjahren Soldat, war Heinrich Böll ein Mann, der nicht deshalb in den Krieg zog, weil er es wollte, sondern weil er nicht den Mut hatte, nein zu sagen. Heinrich Böll war ein uniformierter und schwerbewaffneter Wehrdienstverweigerer, der an der Front mehrmals verwundet wurde. Er war ein Soldat, der, obwohl er die Voraussetzungen zum Offizier mitbrachte, die Beförderung ablehnte und sechs Jahre später als Hauptgefreiter entlassen wurde.
Seine Kriegserfahrungen haben ihn für sein Leben geprägt und haben ihn zum Schriftsteller gemacht, ihn dazu getrieben, die Universität zu verlassen und seine Dämonen auszutreiben, indem er sie auf Papier niederschrieb: ein Exorzismus, der ein Leben lang währte.

Heinrich Bölls Geschichten erzählen vom Krieg, vor allem aber von dem Krieg, dem einen, den man 1945 für beendet erklärte, der für ihn aber niemals wirklich endete, weil Kriege niemals wirklich aufhören, sondern einfach stumm werden und zu Albträumen werden.

Mit diesen Albträumen hat Heinrich Böll sein Leben lang gekämpft. Auf der großen Leinwand seiner Geschichten ist der Krieg immer da, nie im Hintergrund, sondern immer im Vordergrund, drohend wie eine Macht und alles andere verdunkelnd, selbst wenn in der Erzählung nicht direkt von ihm die Rede ist.

Wie ein heimtückischer Hauch in der Luft, ist der Krieg dem stechenden Geruch des Todes ähnlich, der einen Raum auch dann nicht verlässt, wenn der Leichnam entfernt und die Fenster geöffnet wurden.

In „Was soll aus dem Jungen bloß werden?“ wünscht der junge Heinrich Böll, obwohl der Schule und der formalen Bildung überdrüssig, er könne der Sintflut entkommen, weitermachen und seine Schulzeit verlängern, denn er war„entschlossen, nicht für den Tod zu lernen, der vielen, wenn nicht allen deutschen Abiturienten als höchstes Lebensziel verkündet worden ist.“ Und selbst nach dem Krieg kehrte er immer wieder zu diesem Thema zurück, bis er mit der nonfiktionalen Erzählung „Die Juden von Drove“ zu einem gewissen Abschluss fand.

Die größte Faszination für Heinrich Böll aber müssen die Zigaretten gehabt haben. In seinen Geschichten sind Zigaretten omnipräsente Leitmotive, besetzt mit Unmengen von Qualitäten und Attributen. Sie sind Freunde, Kumpel, Tröster und sogar Geliebte. Zigaretten erinnern uns an die fragile Gemütsverfassung der Personen. Sie erinnern an die Zeit des Mangels und des Schwarzmarkts. Sie kennzeichnen einen Charakter und tragen dazu bei, Situationen und Schauplätze näher zu bestimmen. Zigaretten sind in Heinrich Bölls Drama des Lebens und der Existenz kaum zu überschätzende Requisiten.

In einer besonders eindringlichen Szene in „Was soll aus dem Jungen bloß werden?“ erzählt der junge Heinrich Böll die Geschichte, wie er übertölpelt wird und eine Schachtel mit Kartoffelschalen statt der arg benötigten Zigaretten mit nach Hause trägt. Davor verwendet er große Sorgfalt darauf, im Einzelnen zu beschreiben, was verschiedene Tabakverschnitte auf dem legalen und auf dem Schwarzmarkt in jener Zeit kosteten, als der Krieg noch bevorstand.

In der Kurzgeschichte „Die Botschaft“ betritt der junge Soldat einen Raum, „worin der Geruch von schlechtem Essen und sehr guten Zigaretten sich festgesetzt hatte“, während der junge Mann in „Die blasse Anna“, als seine Leidenschaft erlischt, sein Vergnügen auf andere Weise sucht: „Ich ließ das Mädchen auf der Couch liegen, steckte mir eine Zigarette an und ging hinaus.“

In „Eine Kiste für Kop“ durchsucht ein Junge die Bahnlinien nach Zigarettenkippen und findet keine, weil Krieg ist und die Soldaten „schon lange keine Zigarettenstummel mehr (wegwarfen)...auch mit Brot waren sie sparsam geworden.“ Als in „Erinnerungen eines jungen Königs“ der König stirbt, tritt der Kammerdiener an den neuen König heran und äußert eine Bitte: „Majestät geruhen bitte, mir nicht nachzutragen, daß ich Majestät damals wegen Rauchens dem Herrn Ministerpräsidenten gemeldet habe.“

In „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“, vielleicht Heinrich Bölls bester Kurzgeschichte, bittet Murke Rina: „Beschweige mir wenigstens fünf Minuten Band.“ Rina ist verärgert, aber statt wütend zu werden, äußert sie eine Bitte. „’Meinetwegen’, sagte das Mädchen, ‚aber gib mir wenigstens eine Zigarette.’“

Warum sind Zigaretten so omnipräsent in den Geschichten Heinrich Bölls? Es reicht nicht aus, darauf hinzuweisen, dass er schon als Teenager zu rauchen begann und bis zu seinem Lebensende nicht aufhörte. Vielleicht liegt die Antwort in der Psyche des Autors. In seiner Jugend, im Irrsinn des Nazikrieges, hat er erlebt, wie Zigaretten einen beeindruckenden Stellenwert als unverzichtbare Güter annahmen, und dieses Image, ein schwer zu bekommendes Gut zu sein, ist nie verschwunden. Das weckte eine Art Hunger, der zu keiner Zeit gestillt werden konnte.

In seiner Kurzprosa wird der Autor Heinrich Böll nirgends so sehr zum puren Spiegelbild seines hungrigen Charakters wie in „Der Geschmack des Brotes“ (dieselbe Szene findet sich etwas anders in dem Roman „Der Engel schwieg“, geschrieben 1949, aber erst posthum 1992 veröffentlicht). Der Erzähler begegnet in einer Kirche einer Nonne, sieht dann einen Schrank mit vielen Broten darin und tröstet sich: „auf jeden Fall werde ich Brot essen“, und als er das Brot isst, fühlt er dessen Berührung an seinen Lippen wie „eine trockene Zärtlichkeit“.

Der Geschmack von Zigaretten ist für Heinrich Bölls Personen Zärtlichkeit, und der Genuss und der Trost, den sie aus den Zigaretten beziehen, ist am besten in einer Szene in „Wo warst du, Adam?“ festgehalten, in der dem jüdischen Mädchen, das in einem Lieferwagen weggebracht wird, eine brennende Zigarette zwischen die Lippen gesteckt wird. Es ist ihre erste, und als sie daran zieht, findet sie die  Zigarette „sehr erfrischend und sehr wohltuend.“

Aus dem Englischen von Jochen Schimmang. Zitate nach "Heinrich Böll. Werke." Kölner Ausgabe 2002ff.