
Europa war schon immer ein Kontinent der Geflüchteten, der Ein- und Auswanderungen. Die Debatte über differenzierte Zugänge, Verfahren und Angebote hat gerade erst begonnen. Das Vorwort der "Berliner Anthologie" zum Internationalen Literaturfestival.
Europa ist seit alters her ein Kontinent der Flüchtlinge, Wanderungen und Vermischungen. Das gilt umso mehr für Deutschland, die Zentralmacht Europas. Hier kreuzten sich die Heerzüge und Völkerwanderungen, die seit Jahrtausenden die europäische Landkarte immer neu schrieben. Römer und Germanen, Franken und Sachsen, Schweden und Franzosen, Slawen und Juden, Menschen aller möglichen Herkunft, Glaubensrichtung und Lebensweise hinterließen hier ihre Spuren. Aus Zuwanderern wurden Deutsche.
Der Versuch, die deutsche Nation auf eine gemeinsame Blutlinie zurückzuführen, war schon immer lächerlich. Nach all den Vernichtungskriegen und Vertreibungen, die im Zweiten Weltkrieg von Nazideutschland ausgingen, nahm das zerbombte Westdeutschland an die zwölf Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten des untergegangenen Reichs auf. Sie waren Landsleute, aber häufig nicht willkommen. Als die Sowjetunion zerfiel, kamen noch einmal Millionen von Herkunftsdeutschen in ein Deutschland, das die meisten nur vom Hörensagen kannten.
Der wirtschaftliche Aufschwung der sechziger und siebziger Jahre wäre undenkbar gewesen ohne billige Arbeitskräfte aus Südeuropa und den Weiten Anatoliens. Sie übernahmen die bescheiden bezahlten Knochenjobs, für die sich immer weniger „Biodeutsche“ fanden. Angeworben wurden sie als „Gastarbeiter“, aber Millionen blieben. In den neunziger Jahren flüchteten während des jugoslawischen „Erbfolgekriegs“ erneut Hunderttausende nach Deutschland. Nun also ein neuer Strom von Flüchtlingen aus den Kriegszonen des Nahen und Mittleren Ostens, von Libyen über Syrien und den Irak bis nach Afghanistan. Sie schlagen sich auf abenteuerlichen Routen über Land und Meer nach Europa durch, Tausende verlieren unterwegs ihr Leben. Dabei treffen sie auf Armutsflüchtlinge und Arbeitssuchende aus dem westlichen Balkan und von jenseits des Mittelmeers.
Die Debatte über den Umgang mit dieser Herausforderung hat gerade erst begonnen. Abschottung wäre inhuman und würde ohnehin nicht funktionieren. Umgekehrt würde die völlige Öffnung der Grenzen für alle, die hierher kommen wollen, vermutlich zu erheblichen politischen und sozialen Verwerfungen führen. Jede Form regulierter Zuwanderung erfordert aber, zwischen verschiedenen Gruppen zu unterscheiden: Politisch Verfolgte, Kriegsflüchtlinge, Armutsmigranten, qualifizierte Zuwanderer. Für sie müssen differenzierte Zugänge, Verfahren und Angebote entwickelt werden, und das möglichst innerhalb der gesamten EU.
Zusammen mit dem "Internationalen Literaturfestival Berlin" haben wir Autor/innen dazu aufgerufen, sich mit dem Thema Flucht und Asyl literarisch auseinanderzusetzen. Dieser Beitrag ist Teil der "Berliner Anthologie", die auch zum Download bereit steht.