
„Und wie kommt es, dass Sie nicht gestorben sind?”
Wie erlebten drei Frauen die Zeit nach ihrer Befreiung aus dem KZ Ravensbrück? Über die Rückkehr von Micheline Maurel, Lidia Beccaria Rolfi und Rosa Jochmann.
Als Micheline Maurel Anfang Juni 1945 an die Tür ihres Elternhauses in Toulon klopft, ist sie zwei Jahre verschwunden gewesen. Sie ist dürr und zerzaust. Mehr als einen Monat war sie nach Südfrankreich unterwegs gewesen. Zwei Jahre zuvor war die 27 Jahre alte Lehrerin, die sich der Résistance, der französischen Widerstandsbewegung, angeschlossen hatte, verhaftet und deportiert worden.
Ihr Vater nimmt sie in den Arm und schon bald wissen alle, dass sie heimgekehrt ist: aus Nazideutschland, wo sie als politische Gefangene im Außenlager Neubrandenburg des Konzentrationslagers Ravensbrück, inhaftiert gewesen war.
Ravensbrück war das größte Frauenlager des Nazi-Regimes: Zwischen 1939 und 1945 waren dort 140.000 Menschen inhaftiert, größtenteils Frauen aus über dreißig Ländern. Sie mussten Zwangsarbeit verrichten, wurden ausgehungert, geschlagen und schikaniert, misshandelt und ermordet. Zehntausende überlebten das Lager nicht, die genaue Zahl ist unbekannt.
KZ Ravensbrück und Außenlager Neubrandenburg
Im Dorf Ravensbrück bei Fürstenberg (Havel) befand sich von 1939 bis 1945 das größte Frauenkonzentrationslager im Deutschen Reich. Wie alle nationalsozialistischen Konzentrationslager unterstand auch das KZ Ravensbrück der Verwaltung und Kontrolle der SS. Neben dem Hauptlager richtete die SS 1941 auch ein Männerlager und 1942 ein Lager für jugendliche Mädchen ein.
Mehr als 140.000 Menschen wurden im KZ-Ravensbrück inhaftiert: 120.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1.200 weibliche Jugendliche. Die Gefangenen kamen aus über 30 Ländern, darunter aus Deutschland, Polen, Frankreich und Italien. Auch Jüdinnen und Juden sowie Sint*izze und Rom*nja aus ganz Europa wurden in Ravensbrück inhaftiert. Die Gefangenen mussten unter härtesten Bedingungen arbeiten, unter anderem in Werkstätten und Fabriken. Zehntausende starben an Mangelernährung, Krankheiten, Misshandlungen, medizinischen Versuchen, Erschießungen oder in der 1945 eingerichteten Gaskammer.
Im Laufe des Krieges entstanden über 40 Außenlager in verschiedenen Regionen des Deutschen Reiches, wo Häftlinge des KZ Ravensbrück zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Außenlager waren kleinere Lager, die organisatorisch an ein Haupt-KZ gebunden waren. Sie lagen oft in der Nähe von Industriebetrieben. Das Außenlager Neubrandenburg war das größte Außenlager des KZ Ravensbrück, mit mindestens 7000 Inhaftierten.
Kurz vor Kriegsende konnte das Rote Kreuz etwa 7.500 Häftlinge des KZ Ravensbrück evakuieren, während über 20.000 Häftlinge zu „Todesmärschen“ in Richtung Nordwesten gezwungen wurden. Am 30. April 1945 befreite die Rote Armee das Lager, in dem sich noch etwa 2.000 Menschen befanden.
Quellen:
Auch Lidia Beccaria Rolfi schloss sich als gerade mal 18-Jährige dem italienischen Widerstand, der Resistenza, an. Sie ist Lehrerin in der italienischen Provinz Cuneo, als sie 1944 in Turin inhaftiert und nach Ravensbrück gebracht wird. Sie wird dort Zwangsarbeit für das kriegswichtige Unternehmen Siemens leisten.
Zu diesem Zeitpunkt ist Rosa Jochmann schon vier Jahre lang inhaftiert. Die Sozialdemokratin wurde 1940 als 38-Jährige mit dem Vermerk „Rückkehr unerwünscht“ von Wien nach Ravensbrück deportiert. Ihre politischen Mithäftlinge wählten sie als Blockälteste.
Es ist Ende April 1945, als Micheline Maurel, Lidia Beccaria Rolfi und Rosa Jochmann die Nachricht erhalten, dass sowjetische Soldaten kurz vor Ravensbrück und Neubrandenburg stehen. Die Amerikaner und Sowjets feiern in Torgau bereits den Sieg über Nazideutschland.
Micheline Maurel (1916–2009)
Micheline Maurel war eine Lehrerin aus Südfrankreich. Sie hatte sich früh der französischen Widerstandsbewegung angeschlossen, 1943 wurde sie verhaftet. Über das KZ Ravensbrück kam sie in das Außenlager Neubrandenburg, wo sie Ende April 1945 von der SS auf den „Todesmarsch“ getrieben wurde. Als der Treck von auf dem Rückzug befindlichen Wehrmachtssoldaten überholt wurde, flüchteten die SS-Angehörigen. Micheline Maurel und einige ihrer Lagergefährtinnen zogen sich, völlig entkräftet, für wenige Nächte in einen verwaisten Bauernhof zurück. Anschließend machten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Westen. Ziel war zunächst Schwerin. Von dort brachten Amerikaner sie nach Hagenow bei Schwerin. Aus dem dortigen Sammellager brachten US-Soldaten die Frauen mit einem Lastwagen zur niederländischen Grenze, von wo sie per Zug weiter nach Frankreich fuhren.
Bei der Rückkehr nach Toulon erfuhr Micheline Maurel, dass der Mann, den sie liebte, während ihrer Abwesenheit geheiratet hatte. Sie war gesundheitlich angegriffen und wurde die Erinnerungen an das KZ Ravensbrück nicht los. Später lebte sie in Genf und arbeitete als Übersetzerin für internationale Organisationen.
Biographische Skizze aus Eschebach, I. u. K. Zeiher (Hrsg.), Ravensbrück 1945, S. 164.
Rosa Jochmann (1901–1994)
Rosa Jochmann schloss sich als Betriebsrätin in der Simmeringer Firma Auer bereits in den 1920er-Jahren der Sozialdemokratie an. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ blieb sie in Wien, obwohl sie als prominentes Mitglied ihrer nun illegalen Partei permanent bedroht war. Nach ihrer Verhaftung 1939 wurde sie im März 1940 in das KZ Ravensbrück deportiert. Ende April 1945 schickte die SS sie auf einen „Todesmarsch“. Die Kolonne löste sich bald im Chaos auf, und Rosa Jochmann kehrte in das unter sowjetischer Verwaltung stehende Lager Ravensbrück zurück. Dort pflegte sie die Kranken. Da die österreichische Regierung keine Rückholaktion für ihre Landsleute durchführte, machte sich Rosa Jochmann zusammen mit einer Kameradin auf den Weg in die Heimat. Mit einem tschechischen Transport gelangten sie nach Prag. Von dort aus schlugen sie sich mit dem Zug und zu Fuß weiter nach Wien durch. Ihnen wurden ein Autobus und ein Lastwagen zur Verfügung gestellt, mit denen sie am 16. Juli 1945 nach Ravensbrück zurückkehrten – und etwa siebzig Österreicherinnen und Österreicher nach Hause bringen konnten.
Im November 1945 wurde Rosa Jochmann als Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) Mitglied der ersten Nationalversammlung Österreichs. Bis 1967 war sie stellvertretende Vorsitzende der SPÖ. Danach engagierte sie sich vor allem im Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer, im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes und in der Lagergemeinschaft Ravensbrück. Bis zu ihrem Tod war sie eine sehr aktive Zeitzeugin der nationalsozialistischen Verbrechen.
Biographische Skizze aus Eschebach, I. u. K. Zeiher (Hrsg.), Ravensbrück 1945, S. 158.
Lidia Beccaria Rolfi (1925−1996)
Als Grundschullehrerin in der Provinz Cuneo tätig, schloss sich die damals 18-jährige Lidia Beccaria Rolfi 1943 der italienischen kommunistischen Partisanengruppe Brigata Garibaldi an. Am 3. April 1944 wurde sie festgenommen, in Turin inhaftiert und in einem Sondertransport in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, wo sie am 30. Juni 1944 eintraf.
Lidia war eine der etwa 450 Italienerinnen in Ravensbrück. Es gelang ihr, einen Arbeitsplatz im Siemenslager zu erhalten, wo sie in einer Baracke mit Französinnen untergebracht war. Diese motivierten sie zum Schreiben eines Tagebuchs, das später als Grundlage ihrer autobiografischen Bücher diente.
Am 26. April 1945 wurde sie gemeinsam mit Tausenden Häftlingen von der SS auf einen „Todesmarsch“ in Richtung Norden getrieben. Nach der Befreiung durch sowjetische Einheiten brachte man sie zunächst in einem US-amerikanisch verwalteten Sammellager in Hagenow bei Schwerin unter, dann in einem britisch verwalteten DP-Camp in Lübeck. Da die italienische Regierung nichts unternahm, um verschleppte Staatsangehörige zurück in die Heimat zu holen, konnte Lidia Beccaria Rolfi erst Anfang September 1945 nach Hause zurückkehren. Sie nahm ihre Arbeit als Lehrerin wieder auf, heiratete und veröffentlichte 1978 ihren autobiografischen Bericht „Le donne di Ravensbrück“. Von 1958 bis zu ihrem Tod war sie die Vertreterin Italiens im Internationalen Ravensbrück-Komitee.
Biographische Skizze von Insa Eschebach
Das Verlassen des Lagers
Es ist ein eisiger Frühling, über die Straße, die neben dem Außenlager Neubrandenburg verläuft, fliehen Zivilisten gen Westen. Micheline kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet: Die Schmerzen von Geschwüren und Hunger lassen sie nicht klar denken. Das Lager soll geräumt werden. Aus der Ferne hört sie das Donnern der Gefechte. Die Russinnen haben bereits die Küche geplündert, die Französinnen beschließen, auf die Befreier zu warten. Dann schreit jemand „Raus! Schnell!“ Ein Fenster nach dem andern zerbirst durch Kugeln. Im eisigen Regen öffnet sich das Lagertor.
Lidia hat sich währenddessen mit ihren Kameradinnen im Hauptlager versteckt, eine bewaffnete Aufseherin sucht den Block ab. Irgendwo brennt es, es wird gebrüllt. Bald kommt auch hier der Befehl: „Raus!“ Sie nehmen nur das Notwendigste mit. Die Aufseherinnen, Soldaten und Hunde treiben sie aus dem Lager.
„So verlassen wir Ravensbrück, so gehen wir durch das Tor aus diesem verdammten Gefängnis hinaus, aber singend, trotz Regen, trotz Kälte, trotz Feuer und Wachen.“ (Lidia Beccaria Rolfi, 26. April 1945)
Rosa und ihre Freundin Helene sehen die Lastwagen kommen und vollbepackt wieder abfahren. „Sie haben keine Zeit mehr, die Häftlinge in die Vergasung zu bringen“, wird Helene später notieren. Mit Beschimpfungen und Fußtritten werden sie aus dem Lager getrieben. Ihnen wird gesagt, sie würden den Amerikanern entgegengehen, doch Rosa und Helene wissen: Für viele wird dieser Marsch den Tod bedeuten.
Die ersten Tage nach der Befreiung
Ein Strom aus Zivilisten, Gefangenen und Kindern wälzt sich nach Westen. Micheline erinnert sich:
„Wir marschieren. Es regnet. Es wird dunkel. Unaufhörlich steigt die Straße an. (…) Dann wurden wir von deutschen Truppen auf dem Rückzug überholt. Da brach die Panik aus unter der in letzter Stunde fliehenden Zivilbevölkerung (…). Jedermann, nur wir nicht, begann wie toll die Straße entlang zu rennen. Die Aufseherinnen hielten Militärfahrzeuge an – fünf stiegen ein. Und plötzlich waren wir allein.“
Lidia fällt aus Erschöpfung die Böschung hinab, ihre Gefährtinnen wird sie nicht mehr finden. Nach fünf Tagen erreicht sie einen Bauernhof. Italienische Soldaten, Kriegsgefangene der deutschen Wehrmacht, haben dort ihr Lager aufgeschlagen und Kuttelsuppe gekocht. Sie verschlingt drei Teller, beim vierten reiten Sowjets in Khakiuniformen auf den Hof. Sie bieten Essen und Tabak und etwas zu trinken. Der Wodka lässt Lidia tief schlafen.
Warum waren italienische Soldaten Kriegsgefangene? (ENTWURF)
In Deutschland gab es italienische Kriegsgefangene, weil die deutsche Wehrmacht nach dem Waffenstillstand Italiens mit den Allierten im September 1943 große Teile Italiens besetzte und viele italienische Soldaten gefangen nahm.
Rosas Kolonne hat sich aufgelöst. „Wir waren eine Gruppe von sieben Häftlingen und beschlossen zu fliehen, und zwar zurück ins Lager.” Dort finden sie gut dreitausend Menschen vor, Kranke, einige politische Häftlinge, Häftlingspersonal. Die sowjetischen Soldaten sind da. Rosa wird bleiben und sich um die Kranken kümmern. Sie ahnt, was es bedeuten würde, wenn sie es nicht tut.

Noch vor zehn Tagen war Lidia nur unter Frauen gewesen, jetzt ist sie umgeben von Männern. Die Italiener richten ihr einen Bottich, in dem sie sich baden und ihre Wunden und Furunkel auswaschen kann.
„Meine Lumpen warf ich mitsamt den Läusen und Nissen ins Feuer, nur den gestreiften Kittel mit der Nummer behielt ich: ‚Mein Pass. Mein Ausweis‘. Dann zieht sie sich einen Mechanikeranzug an. “Ich bin nicht mehr die Nummer 44140”, sagt sie sich.
Auf der Straße sammeln Micheline und ihre Gefährtinnen Schweineschmalz und Konserven ein, die die Deutschen zurückgelassen haben. In einem Bauernhof finden sie Unterschlupf. „Dawaj! Dawaj!“, tönt es von draußen. Ein Militärwagen steht auf dem Hof.
Die Französinnen und die Sowjets teilen sich den Hof: Die Soldaten schlachten Hühner für die Frauen, dann bedienen sie sich ihrer. „Du Französin, ich Russe – ist dasselbe. Du meine Schwester. Leg dich hin!“ Micheline zeigt ihre Geschwüre, sagt, sie sei ansteckend. Sie spricht etwas Russisch und redet immer wieder auf die Soldaten ein: Auch ihre Freundin Michelle sei krank und erschöpft. Ein Soldat besorgt ein Bett für die Kranke in der Stube der Bauern. Dann vergewaltigt er eine der Bäuerinnen.
Rosa und Helene kümmern sich um die Frauen im Lager und um die Häftlinge des Männerblocks. Rosa schreibt an das Wiener und das Prager Radio und den österreichischen Übergangskanzler Karl Renner, dass ein Transport für seine Landsleute organisiert werden müsse: „Wir sind hier noch ungefähr 70 Österreicher in Ravensbrück, also müssten wir unbedingt zumindest 2 große Autos haben?“ Sie ist überzeugt, dass bereits alles unternommen wird, um sie zu retten.
Micheline tauscht ihre Häftlingskleidung gegen einen Trainingsanzug. Aus Angst, für eine Deutsche gehalten zu werden, schneidert Michelle Dreiecke und Armbinden und versieht sie mit der Gefangenennummer. Einige Tage später überschreiten sie die Demarkationslinie zu den Amerikanern. Nun liegen keine Leichen mehr am Straßenrand.
In den Displaced Persons Camps
Lidia und die italienischen Internierten werden von amerikanischen Soldaten aufgenommen, die sie Anfang Mai nach Hagenow nahe Schwerin bringen. Dort gibt es ein Lager für „Displaced Persons“. Deutsche Kriegsgefangene verteilen rund um die Uhr eine dicke Suppe. Es ist ein „Reich der Anarchie, ein neues Ghetto für die Opfer der Deutschen“, findet Lidia und weiß: Unter die Deportierten und Zivilisten haben sich auch SS-Leute und Folterknechte gemischt.
Auch die Französinnen kommen im Mai in Hagenow an. Micheline und Michelle sind die einzigen Frauen in der Schlange für die Suppe. Ein amerikanischer Soldat nimmt die beiden an den Arm: Er „führte uns die Reihe entlang bis an die Spitze der Kolonne, genau vor die Tür der Kantine. ‚Ladies first‘, sagte er. Das war so unerwartet, so seltsam für uns, dass Michelle, die ihn anlächeln wollte, zu weinen anfing.“
Lidia wird einige Tage später in einem weiteren Lager für Displaced Persons in Lübeck untergebracht, das von Engländern betrieben wird. Ihre Beine schwellen langsam ab, sie nimmt wieder zu, sogar „ein wenig Busen“ ist zu ahnen, nur die Furunkel werden mehr. Sie sonnt sich, um die Narben und den Lagergestank loszuwerden. Bald wird sie ihre Periode wiederbekommen. Doch das Warten auf die Heimkehr wird belastender.
„Keiner dachte an uns, keiner aus Italien machte sich die Mühe, uns wieder nach Hause zu schicken.“
„[Aus den gut gepflegten Vorgärten der deutschen Dörfer] klaute ich auch Blumen, das war mein gutes Recht. Sie hatten mich deportiert, mich in der Fabrik ausgebeutet, mich gedemütigt, mir ein Jahr Lebenszeit geraubt, und dafür nahm ich mir jetzt Blumen und Salat.“ (Lidia Beccaria Rolfi, 19. Mai 1945)
In Ravensbrück arbeitet Rosa gut mit den Sowjets zusammen. Die Soldaten danken den Frauen für die Unterstützung, aber mahnen: Alle Kranken müssen bis Mitte Juli das Lager verlassen haben. Rosa entscheidet, mit ihrer Freundin Friederike „Friedl“, den Transport selbst zu organisieren.
Der lange Weg zurück
Rosa und Friedl machen sich zu Fuß auf. Sie trampen, reisen in Militärflugzeugen und mit Zügen durch die kriegsverwüsteten Länder bis nach Prag, wo sie stranden.

„Der Zufall wollte es, dass wir eine Lagerkameradin trafen, deren Bruder eine maßgebende Stelle hatte und die uns eine Fahrkarte verschaffte.“
Nach der Zugfahrt über Bratislava kommen sie endlich in Korneuburg, nördlich von Wien, an. Die restliche Strecke, einige Stunden, gehen sie wieder zu Fuß. In Wien kann Rosa ihre Familie und Freunden wiedertreffen.
Micheline freut sich in Kevelaer an der niederländischen Grenze auf die „fröhliche Heimkehr“. Über Belgien fahren sie und Michelle nach Lille und von dort mit dem Bus weiter. Die Polizei kontrolliert die Flüchtenden. Sie bekommen an verschiedenen Schaltern am Bahnhof provisorische Identitätskarten, Taschengeld, Lebensmittel und Fahrkarten. Aus dem Zugfenster blicken die Freundinnen auf das Tal der Saône und das zerbombte Frankreich. Michelle steigt in Mâcon aus, dann füllt sich der Zug immer mehr mit Zivilisten.
„Ich trug den deutschen Trainingsanzug, […] der […] meine mit Schwären bedeckten Füße sehen ließ. Auf der Brust hatte ich meine Nummer 22410 und das rote Dreieck […]. Niemand sprach ein Wort mit mir. Sie schauten mich nur an. […]. [Eine Frau] stellte den Korb mit den Erdbeeren auf meine Knie. Ich war so gerührt: […] die erste spontane Geste, die ich in Frankreich erlebte.“ (Micheline Maurel, Mai/Juni 1945)
Mitte August werden Lidia und die anderen Frauen nach Hamburg gebracht. Die internierten italienischen Soldaten reisen schneller weiter, die Frauen sollen gesammelt transportiert werden. Sie äußern ihren Unmut: Sie seien keine Kriegsbräute, sondern Widerstandskämpferinnen, „und jetzt forderten wir dieselben Rechte“. Am nächsten Tag dürfen sie mit dem Militärtransport mit.
In Wien suchen Rosa und Friedl den Übergangskanzler auf: Sie bräuchten endlich die Busse, um die letzten Häftlinge aus Ravensbrück zu retten. Er sorgt für einen Lastwagen und einen Autobus, ein sowjetischer Offizier soll sie begleiten. „Und so fuhren wir eines Tages los“, zurück an den Ort, an dem Rosa fünf Jahre lang gepeinigt worden war. Gerade ist sie 44 Jahre alt geworden. In Ravensbrück werden sie mit „unbeschreiblicher Freude“ begrüßt: Die ehemaligen Mithäftlinge hatten die Hoffnung schon aufgegeben, sie wieder zu sehen.
Der Militärzug der Italiener kommt nur langsam voran. Immer wieder bleibt er in den ausgebombten Bahnhöfen stehen. Nach zehn Tagen erreichen sie Innsbruck. In der Kaserne warnt der Priester vor den Kommunisten in Italien. Eine der Frauen erhebt das Wort: Sie seien Partisaninnen, die deportiert wurden. Er habe wohl vergessen, wer die Faschisten seien. Sie fahren durch den Brenner, von Pescantia aus gibt es Verbindungen in alle Himmelsrichtungen. Lidia nimmt den Zug nach Westen.
Die letzte Etappe
Michelines Zug endet in Marseille, sie muss in der Bahnhofsmission schlafen. An einem Morgen Anfang Juni 1945 wird der Bummelzug sie mit den Arbeitern nach Toulon bringen. Als sie aus dem Fenster blickt, sieht sie nur Ruinen. Ob ihr Zuhause noch steht? In Toulon wird sie mit drei Kriegsgefangenen in einen Lieferwagen gesetzt. „Wir fahren Sie als Erste heim“, sagt eine Frau mit Armbinde zu ihr.
Am 16. Juli erreichen Rosa, Friedl und der Offizier Ravensbrück. Sie verfrachten alle österreichischen Kranken in den Transport, den die „Künstlerinnen unter den Kameradinnen wunderschön geschmückt und beschriftet“ haben. Sie putzen die Baracke, bevor sie sie „in sauberem Zustand“ an die Sowjets übergeben. Dann geht es nach Hause: Fünfzig Häftlinge werden ins Wilhelminenspital in Wien gebracht.
Helene schenkt Rosa ein Exlibris. „Juli“ steht darauf, oben, mit Raben und Stacheldraht, ist Ravensbrück; rechts und links die Städte, die der Bus passierte: Berlin, Dresden, Prag und Wien. In der Mitte: Beeren, als „erster Gruß der Freiheit“.
Es ist bereits Anfang September, als Lidia endlich Mondovi erreicht. Die Rückkehr ins Piemont war nicht verlaufen, wie sie es sich ausgemalt hatte: Sie wurde auf einem Foto nicht wiedererkannt, Zivilisten hatten sie in den Viehwaggon gejagt, ein Schaffner hatte ihren Passagierschein nicht annehmen wollen, weil er „nur für Soldaten, nicht für Frauen“ gelte, sie wurde beschimpft und ignoriert. An der Haustür klopft ihr Bruder ihr auf die Schulter und fragt, „wie denn alles gegangen sei“.
Rückkehr in die Nachkriegsgesellschaft
Nur wenige deportierte Frauen kehren nach Toulon zurück; Micheline Maurel ist eine Attraktion. Für die Zwangsarbeit und den erlittenen Hunger scheint sich niemand so recht zu interessieren – aber, ob sie denn vergewaltigt worden sei? Solch ein „Abenteuer“ könne sie leider nicht vorweisen, entgegnet sie trocken. „Und wie kommt es, dass Sie nicht gestorben sind?“, fragt eine. Die Antwort weiß Micheline nicht, aber sie glaubt: Wegen der anderen Frauen und wegen ihrer festen Knochen.
Der Mann, den Micheline liebte, hatte inzwischen geheiratet. Das Unterrichten ist ihr kaum mehr möglich. In den Jahren nach ihrer Rückkehr leidet sie immer wieder Hunger, friert in kalten Zimmern in Lyon, London und Genf. In der Schweiz wird sie als Übersetzerin arbeiten. Sie verspürt den Druck, glücklich sein zu müssen: Um die Toten zu ehren, die sie um das Leben beneiden. 1955 schreibt Micheline Maurel ihre Erinnerungen auf, die als „Un camp très ordinaire“ 30 Jahre später veröffentlicht werden.
Rosa Jochmann nimmt sofort die politische Arbeit wieder auf. Viele ihrer Parteigenossinnen sind im Exil, vermisst oder tot. Bei einer großen Parteiversammlung der Sozialdemokraten im August wird sie mit tosendem Applaus begrüßt: „Wir konnten lange, lange nicht sprechen, weil der Jubel so groß war“. Sie weint zum ersten Mal seit sechs Jahren, als sie in einem mit Blumen geschmückten Auto nach Hause fährt.
Im November 1945 wird sie Mitglied der ersten Nationalversammlung Österreichs. Statt als Lokalpolitikerin, wie sie es sich gewünscht hatte, wird sie als Funktionärin eingesetzt. Rosa bleibt rastlos: Sie nimmt an unzähligen Versammlungen und Konferenzen teil, schreibt, protestiert, gedenkt. Weder sie noch andere „Kzler“ hätten „sich auch nur einen Tag erholt“, notiert sie – die Parteiarbeit verlange es so. Ihr einstiger Partner und sie haben sich entfremdet. In Ravensbrück hat sie Cilly kennengelernt, mit der sie ihr weiteres Lebens verbringen wird. Rosa Jochmann wird als Zeitzeugin zu den Erfahrungen im KZ wirken.

In Italien, sagt Lidias Familie, habe niemand je von Ravensbrück gehört. Man misstraut ihr, weil sie überlebt hat, und weil sie Kommunistin ist.
„Erst gehst du zu den Partisanen, dann nach Deutschland und jetzt zu den Kommunisten“, sagt ihre Mutter. „Du machst der ganzen Familie Schande, und wenn das herauskommt, kriegst du nie und nimmer eine Stelle an der Schule.“
Lidia Beccaria Rolfi stellt einen Antrag auf Abstellung vom Schuldienst. Der Amtsleiter blickt sie gelangweilt an und lehnt ihn ab. Wütend verlässt sie den Raum:
„Jetzt wusste ich, dass das Gefängnis, die Deportation, das Lager mir keinerlei Recht gaben, mich zu irgendeiner der vorgesehenen Kategorien zu rechnen.“
Niemand wusste mit deportierten Frauen wie ihr umzugehen. Sie muss wieder unterrichten, später heiratet sie und bekommt einen Sohn. Von 1958 bis zu ihrem Tod 1996 ist sie Vertreterin Italiens im Internationalen Ravensbrück-Komitee.
Gut dreißig Jahre, nachdem sie aus Ravensbrück befreit wurde, verfasst sie einen Bericht über die Ereignisse ihrer Rückkehr. „Le donne di Ravensbrück“ wird 1978 veröffentlicht. „Ich wollte denen etwas erzählen, die noch nichts wussten“, schreibt sie darin, „oder nichts wissen wollten.“