Sachsen-Anhalt: Wie der Neustart in der Flüchtlingspolitik scheiterte

Eine angesichts großer Menschenmassen überforderte mazedonische Polizei im Sommer 2015
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Schon vor dem großen Anstieg der Flüchtlingszahlen im Herbst zeigte sich, dass eine Willkommenskultur in Sachsen-Anhalt nur schwer zu verordnen ist. Die Aufnahme zeigt eine angesichts großer Menschenmassen überforderte mazedonische Polizei im Sommer 2015

Eigentlich wollte Sachsen-Anhalt alles besser machen. Doch schon vor dem großen Anstieg der Flüchtlingszahlen im Herbst zeigte sich, dass eine Willkommenskultur nur schwer zu verordnen ist.

Anfang der neunziger Jahre mussten auch in Magdeburg, Halle, Dessau oder Halberstadt AsylbewerberInnen um ihr Leben fürchten, als Horden von Skinheads Jagd auf Flüchtlinge machten und auch die Polizei wenig unternahm, um die Menschen zu schützen. Das sollte sich nicht wiederholen, dieses Mal wollte die schwarz-rote Landesregierung unter Beweis stellen, aus den Fehlern von damals gelernt zu haben:

Im Herbst 2014 lud Ministerpräsident Haseloff (CDU) in die Magdeburger Staatskanzlei zu einem Flüchtlingsgipfel ein, einem Treffen sogenannter Spitzenverbände des Landes, zu dem neben den VertreterInnen der Landesregierung und Landtagsparteien die Kammern von Handwerk und Industrie geladen waren, Abgesandte der Wohnungswirtschaft sowie die Sozialverbände des Landes. Im fünfundzwanzigsten Jahr des Mauerfalls und angesichts einer erwarteten Zunahme von Flüchtlingen wollte Ministerpräsident Haseloff nach jahrelanger Diskussion einen Neustart in Sachsen-Anhalts Flüchtlingspolitik markieren.

Ein abrupter Richtungswechsel war das nicht, denn schon seit Jahren hatte CDU-Innenminister Stahlknecht versucht, die Landkreise zu überzeugen, endlich auf eine dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge zu setzen, denn trotz drastisch gesunkener Zahlen von AsylbewerberInnen wurden viele von ihnen auch noch weit nach dem Jahr zweitausend in entfernt gelegenen Sammelunterkünften einquartiert, unter zum Teil entwürdigenden Bedingungen. Und wohl auch deshalb waren bei dem Spitzentreffen in der Staatskanzlei Landrät/innen sowie die drei Oberbürgermeister eingeladen, denen nun versprochen wurde, dass das Land die Kosten der Unterbringung übernehmen werde und zusätzlich Lehrer/innen für Deutschkurse in Schulen einstellen wolle, um den Begriff der „Willkommenskultur“ mit Leben zu füllen. Zwei Stunden lang tauschten die rund fünfzig Teilnehmenden ihre Ideen aus, eine weiße, überwiegend männliche und bis auf wenige Ausnahmen nicht zugewanderte Schar von Verwaltungsfachkräften, wie sich der flüchtlingspolitische Sprecher der Grünen im Magdeburger Landtag, Sören Herbst, auch noch ein Jahr danach erinnert. Aber das eigentliche Problem sei gewesen, dass nichts beschlossen wurde, weil es offensichtlich kein Konzept gab, wie sich Sachsen-Anhalt zu einem Einwanderungsland entwickeln könne. Stattdessen verabredete man die Gründung von vier Arbeitsgruppen.

„Zu spät, zu zögerlich“

Dabei war schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass die Situation, insbesondere in der Zentralen Aufnahmestelle in Halberstadt, kritisch war. „Ich werfe der Landeregierung vor, dass sie die Veränderungen, die seit fast zwei Jahren in diesem Land zu spüren waren, zu spät zur Kenntnis genommen hat“, sagt Sören Herbst. Denn bereits im September 2013 musste zum ersten Mal die Turnhalle der ZAST zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt werden, zunächst als Ausnahme gedacht, schon bald aber der Regelfall. Im September 2015 wurden zusätzliche Zelte aufgestellt, was durchaus hätte vermieden werden können, so Sören Herbst, wenn die Landesregierung rechtzeitig die Realitäten zur Kenntnis genommen hätte. 

„Als ich im Jahr 2011 in den Magdeburger Landtag gewählt wurde, gab es niemanden, auch bei den Grünen nicht, der sich im Parlament kontinuierlich mit dem Flüchtlingsthema beschäftigte“, sagt Sören Herbst, der damals die ersten Monate seines Mandats nutzte, um alle Sammelunterkünfte des Landes zu besuchen. Bei  vielen Einrichtungen war er der erste Landtagsabgeordnete überhaupt, der sich die Verhältnisse vor Ort anschaute. „Tatsächlich galt das Thema Flüchtlinge und Migration in Sachsen-Anhalt lange als ein politisches Nischenthema, obwohl eigentlich allen hätte klar sein müssen, dass die Flüchtlingszahlen ansteigen werden.“ Wenn überhaupt, dann wurde in Sachsen-Anhalt auf das Thema Zuwanderung aus der politischen Binnensicht geschaut, denn das Land hat im bundesweiten Vergleich die schlechtesten Demografiewerte.

Abwanderung und Geburtenknick bescherten dem Land seit der Wende einen Bevölkerungsverlust von rund siebenhunderttausend Menschen, ein Trend der sich auch in den nächsten Jahren fortsetzen wird, wenn auch weniger dramatisch als zunächst angenommen. Dennoch hat Sachsen-Anhalt die höchste Ausländerfeindlichkeit in Deutschland und das bei einem bisherigen Ausländeranteil von rund zwei Prozent. In einer Untersuchung der Universität Leipzig vom Frühjahr dieses Jahres stimmten immerhin 42,2 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen.“ 

„Auch für Grüne ein schwieriges Wahlkampfthema“

Diese mangelnde Weltoffenheit spiegelt sich auch in der Personalsituation der Parteien im Land wieder. Unter den derzeit einhundertfünf Abgeordneten des Landtages ist niemand, der auf eine Migrationsbiografie verweisen könnte und nun droht auch noch ein problematischer Wahlkampf. Denn im März 2016 wird in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt und so mancher fühlt sich an das Jahr 1998 erinnert, als die rechtsextreme DVU (Deutsche Volksunion) mit fast 13 Prozent der Stimmen einen Überraschungssieg einfuhr. Die DVU ist inzwischen politisch bedeutungslos, doch beerben könnte sie die AfD, deren Landesvorsitzender Poggenburg als Gefolgsmann von AfD-Krawallo Höcke gilt. Dass die AfD in den Magdeburger Landtag einziehen wird, gilt als sicher, die Frage ist nur, wie deutlich zweistellig das Ergebnis ausfallen wird. Dass die politische Verunsicherung wächst, zeigt die Forderung von Ministerpräsident Haseloff nach einer Flüchtlingsobergrenze, welche die Länder selbst festlegen sollten, eine politische Idee, die auch im eigenen Lager belächelt wurde.

Die Sozialdemokraten starten ebenfalls nicht aus einer günstigen Position in den Wahlkampf, denn der Parteiaustritt des Magdeburger Oberbürgermeisters Trümper machte deutlich, wie umstritten die aktuelle Flüchtlingspolitik auch innerhalb der SPD ist. Und auch die Linkspartei blickt trotz vergleichsweise guter Umfragewerte nicht unbedingt optimistisch auf die Wahl, denn erfahrene GenossInnen können sich gut an jene Landtagswahl 1998 erinnern, als auf zahlreichen Wahlzetteln die PDS die Erststimme erhielt, die Zweitstimme jedoch an die DVU ging. Umso wichtiger sei es nun, bei der Landtagswahl die Flüchtlingspolitik als ein Kernthema der Grünen zu platzieren, so Sören Herbst: „Als wir vor über einem Jahr hier im Landesverband diskutiert haben, mit welchen Themen wir in den Wahlkampf gehen wollen, da musste ich für das Einwanderungsthema hart kämpfen, das sage ich hier ganz offen. Denn natürlich gab es auch unter uns Grünen die Frage, ob man mit so einem schwierigen Thema für Sachsen-Anhalt tatsächlich beim Wähler punkten kann. Wenn wir jetzt aber die Probleme sehen, dann haben wir uns richtig entschieden, denn im Gegensatz zu den anderen Parteien müssen wir jetzt in unserer Wahlstrategie keine dramatischen Änderungen vornehmen.“

Allerdings bleibt ein Restrisiko, nämlich ein Wahlkampf auf Stammtischniveau, bei dem die AfD mit markiger Fremdenfeindlichkeit alle anderen Parteien vor sich her treibt. Sören Herbst schlägt deshalb eine Art Vereinbarung zwischen allen demokratischen Parteien vor, einen Konsens darüber, dass im Wahlkampf das Thema Zuwanderung nicht für populistische Stimmungsmache genutzt wird. Dass der Wahlkampf härter werden wird als in den Jahren zuvor, zeigte sich bereits Anfang November. Unbekannte sprühten einen Galgen und das Wort Volksverräter an das Regionalbüro von Sören Herbst, vorausgegangen waren dem Drohungen gegen den Grünen-Politiker im Internet. 

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Sachsen-Anhalt finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).