Das Minsker Abkommen steckt fest. Von der Ukraine ist nicht zu verlangen, Scheinwahlen im Donbass zu akzeptieren und den Marionettenrepubliken Autonomie einzuräumen, wenn Russland gleichzeitig seine Macht in der Region ausbaut.
Die diplomatischen Bemühungen des Westens, eine politische Lösung für den Ukraine-Konflikt zu finden, sind in einer Sackgasse gelandet. Die Vereinbarungen des Minsker Abkommens – weitgehende Autonomierechte für den Donbas gegen den Abzug russischer Waffen und Truppen, Durchführung regionaler Wahlen unter internationaler Aufsicht, Kontrolle der Grenze zu Russland durch die Ukraine – stecken fest. Nicht einmal der Austausch von Gefangenen kommt voran. Der Waffenstillstand wird immer wieder gebrochen. Jeden Tag meldet die ukrainische Armee neue Tote und Verwundete. Nach wie vor fließt Nachschub an russischen Waffen und Kämpfern in den Donbas. Die Überwachungs-Mission der OSZE wird von den Separatisten regelmäßig ausgebremst. Etwa 1,5 Millionen Menschen sind aus den besetzten Gebieten geflohen. Nach allem, was man aus Donezk und Luhansk erfährt, herrscht dort rohe Gewalt. Söldnerführer stopfen sich die Taschen voll. Hinter der Potemkinschen Fassade der „Volksrepubliken“ haben russische Offiziere und Berater das Sagen.
Bundesregierung und EU haben bisher vermieden, die Dinge beim Namen zu nennen. Nicht aus Unkenntnis, sondern weil man Putin eine Tür offen halten wollte, sich ohne Gesichtsverlust aus der Affäre zu ziehen. Man wollte vermitteln, nicht Partei ergreifen. Diese unentschiedene Haltung lässt der russischen Propaganda viel Raum und macht es schwer, die europäische Öffentlichkeit für die Unterstützung der Ukraine zu gewinnen. Das niederländische Referendum ist ein Warnsignal. Dabei liegt der unerklärte Krieg Russlands gegen die Ukraine offen zutage. Sein erster Akt war die als „freiwilliger Anschluss“ inszenierte Annexion der Krim, der zweite der vom Kreml gesteuerte Krieg in der Ostukraine. Wie zu Beginn der „Operation Krim“ hat die russische Führung auch ihre Rolle als Kriegspartei im Donbas bestritten. Das jüngste Beispiel lieferte die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Zu Forderungen nach Freilassung der ukrainischen Pilotin Nadiya Savchenko, die in einem Moskauer Schauprozess zu 22 Jahren Gefängnishaft verurteilt wurde, erklärte Maria Zhakarova kühl, Russland sei nicht Teil der Minsker Vereinbarungen. Die Verpflichtungen aus diesem Abkommen beträfen lediglich die beiden beteiligten Konfliktparteien – also Kiew und die Separatistenrepubliken. Weshalb spielt der Westen diese Travestie mit, statt die russische Führung mit ihrer Verantwortung zu konfrontieren?
Russland als Aggressor und Schlichter
Das gleiche Doppelspiel charakterisiert auch die OSZE-Mission zur Überwachung des Waffenstillstands. Russland stellt das zweitstärkste Kontingent der Mission und hat maßgeblichen Einfluss auf Einsatzplanung und Lageberichte. Der Aggressor tritt als Schlichter auf. Gleichzeitig wäscht der Kreml seine Hände in Unschuld, wenn den OSZE-Teams immer wieder der Zugang zu militärischen Hotspots in den besetzten Gebieten verweigert wird. Die Aufwertung des OSZE-Mandats zu einer robusten Polizeimission ist ein bedenkenswerter Vorschlag. Aber solange der Kreml gleichzeitig als Kriegspartei und Vermittler agiert, wird die OSZE nicht über eine Feigenblatt-Rolle hinauskommen.
Während der Druck auf die Ukraine steigt, den besetzten Gebieten weitreichende Autonomie zu verleihen, baut Russland seine Kontrolle aus. In Moskau ist eine Regierungskommission für den Donbas am Werk, an der fünf Ministerien plus Geheimdienst beteiligt sind. Dort laufen die politischen, finanziellen und administrativen Fäden zusammen. Die Medien sind fest unter russischer Kontrolle, jede pro-ukrainische Aktivität ist lebensgefährlich. Wie unter diesen Umständen auch nur halbwegs freie und faire Wahlen möglich sein sollen, bleibt ein Rätsel, ganz zu schweigen vom Wahlrecht der Flüchtlinge. Von der Ukraine zu verlangen, ihre Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen umzusetzen, während die russische Seite den faktischen Anschluss des Donbas betreibt, läuft darauf hinaus, mit dem Segen des Westens eine russische Marionettenrepublik in der Ostukraine zu etablieren. Soll das der Preis für eine "Normalisierung" der Beziehungen zu Russland sein?
Von der Annexion der Krim ist kaum noch die Rede. Die erneute Unterdrückung und Vertreibung der Tataren ist kein Thema. Auch um die russischen Verpflichtungen bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ist es merkwürdig still geworden. Weshalb tut man so, als habe man keine belastbaren Kenntnisse über den russischen Fußabdruck in der Ostukraine, weshalb fordert der Westen nicht unisono, dass Moskau die Zufuhr von frischen Söldnertruppen unterbindet? Während die Teilnahme russischer Staatsbürger an „Kampfhandlungen im Ausland“ im Falle des IS mit hohen Haftstrafen bedroht wird, werden die Freischärler im Donbas in Russland rekrutiert, ausgebildet und von der Regierung finanziert. Vermutlich fällt die Ukraine im Verständnis Moskaus nicht unter die Kategorie „Ausland“.
Es braucht einen neuen diplomatischen Anlauf
Die Minsker Vereinbarungen wurden Präsident Poroshenko in einer Notlage abgepresst, als die ukrainische Armee angesichts der Offensive regulärer russischer Truppen vor dem Zusammenbruch stand. Sie sollten den Krieg einfrieren und einen politischen Prozess in Gang setzen. Das ist nach wie vor das Gebot der Stunde. Man kann aber von der Ukraine nicht verlangen, dass sie ihre Verpflichtungen ohne substantielle Gegenleistungen Moskaus umsetzt. Es braucht deshalb einen neuen diplomatischen Anlauf und ein neues Format für eine politische Lösung des Konflikts.
Dabei können die USA und Großbritannien nicht außen vor bleiben. Sie waren gemeinsam mit Russland die Garantiemächte des „Budapester Protokolls“ von 1994. Damals verzichtete die Ukraine auf ihre Atomwaffen, im Gegenzug wurde ihre politische Souveränität und territoriale Integrität garantiert. Washington und London können sich ihren Verpflichtungen aus dieser Vereinbarung nicht entziehen. Alles andere wäre auch abrüstungspolitisch ein fatales Signal: wer seine Atomwaffen zugunsten internationaler Garantien aufgibt, hat auf Sand gebaut. Nur wenn der Westen in dieser Frage geschlossen auftritt, lässt sich Putin womöglich überzeugen, dass die Zusammenarbeit mit Europa und Amerika für Russland wichtiger ist als die Zerstückelung der Ukraine. Wer ihm signalisiert, dass er beides haben kann, begeht einen großen Fehler. Deshalb müssen auch die Sanktionen in Kraft bleiben, solange der Kreml seine Interventionspolitik fortsetzt.
Dem russischen Machtspiel nachzugeben, wäre nicht nur ein Verrat an der ukrainischen Demokratiebewegung. Es wäre auch ein Verrat an Europa. Eine Europäische Union, die sich selbst ernst nimmt, muss auf die Prinzipien der europäischen Friedensordnung pochen. Zu ihrem Kern gehören Gewaltverzicht und gleiche Souveränität aller europäischen Staaten. Man kann mit dem Kreml über vieles verhandeln, aber darüber nicht. Die EU darf keinen Zweifel daran lassen, dass wir den demokratischen Aufbruch der Ukraine mit ganzem Herzen und kühlem Verstand unterstützen. Das ist kein Freibrief für Oligarchen und korrupte Politiker, ganz im Gegenteil. Der Erfolg der ukrainischen Reformbewegung wird von außen und innen bedroht. In beide Richtungen braucht sie europäische Solidarität, Klarheit und Festigkeit.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Zeit.de.