Mit Obama, nach Obama: Schnell geht's nur in den Krieg

US-Präsident Barack Obama
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Obama hatte immer eine nicht-polare Weltordnung im Sinn und wusste zugleich, welch langer Atem nicht allein der USA nötig wäre, um sie zu verwirklichen.

Die USA befanden sich in einer unipolaren Sackgasse. Obwohl Barack Obama eine nicht-polare Weltordnung anstrebt, ist die Wende noch nicht gelungen. Die Welt ist heute gefährlicher als zu Zeiten des Kalten Krieges.

In den letzten Jahren hat kein amerikanischer Präsident ein so klares Bekenntnis zu den Vereinten Nationen abgelegt und ihre Bedeutung derart hervorgehoben wie Barack Obama in seiner jüngsten Rede vor der UN-Generalversammlung. Wenn das Ende einer Präsidentschaft einem endgültigen Abschied gleichkäme, müsste man die Rede als politisches Testament verstehen.

"Wir können uns für eine bessere Geschichte entscheiden"

Aber Obama wirkt quicklebendig. Auf seine Unterstützung wird die UN vielleicht noch zurückgreifen wollen. Für die UN eine Mission zu übernehmen, wäre ja kein Abstieg. Aber es wäre neu für einen früheren amerikanischen Präsidenten. Das hat Gründe. Zulange haben die USA die UN als ihr Geschöpf betrachtet, um sich ernsthaft in ihren Dienst zu stellen.

Vielleicht setzt Obama auch dieser Gewohnheit ein Ende. In seiner Rede meinte er: „Wir alle sind Teilhaber dieses internationalen Systems, und es ruft uns alle auf, uns für den Erfolg der Institutionen einzusetzen, zu denen wir gehören.“ Und er sieht Erfolge, wenn sich die Mitgliedstaaten engagieren. Er nennt einige, zum Beispiel die Erhöhung des Etats der UN-Friedenstruppen. Aber er schließt damit, dass er anerkennen müsse, die Geschichte habe auch eine andere als seine hoffnungsvolle Version parat.

„Wir können einen viel dunkleren und zynischeren Blick auf die Geschichte werfen. Menschen sind zu oft durch Gier und Macht angetrieben. Große Länder haben kleinere meistens herumgestoßen. Stämme, ethnische Gruppen und Nationalstaaten haben es oft völlig angemessen gefunden, sich selbst danach zu definieren, was sie hassen, und nicht durch die Ideen, die sie aneinander binden… Wir müssen uns erinnern, dass es die Entscheidung menschlicher Individuen war, die zu Weltkriegen führte.

Aber wir haben uns auch zu erinnern, dass es die Entscheidung von menschlichen Individuen war, die die Vereinten Nationen schuf, damit ein Weltkrieg niemals wieder ausbricht. Jeder von uns als führender Politiker, jede Nation kann sich dafür entscheiden, diejenigen zurückzuweisen, die an unsere schlimmsten Impulse appellieren, und sich an diejenigen zu halten, die sich an unsere besten Seiten wenden. Denn wir haben gezeigt, dass wir uns für eine bessere Geschichte entscheiden können.“

Manche von den anwesenden Vertretungen in der Generalversammlung mögen sich kritisch angesprochen gefühlt haben. Man kann auch einen Kommentar zum Wahlkampf in den USA heraushören. Alles nur Rhetorik werden Möchtegern-Realisten sagen. Sie haben sich nie klargemacht, dass demokratische Politik mit republikanischer Ansprache beginnt. Vielleicht weil sie die Demokratie scheuen.

Wenden in der Sackgasse

Obama hat die Präsidentschaft übernommen, als die USA in der unipolaren Sackgasse festgefahren und gleichzeitig dabei waren, die Welt in eine gewaltige Finanzkrise zu stürzen. Bei der Überwindung der Finanzkrise sind die USA vorangekommen. Aber um außenpolitisch in der unipolaren Sackgasse zu wenden, braucht es Geduld und auch etwas Rücksicht auf Gegenverkehr. Mit dieser Geduld konnte Obama nicht rechnen.

Russland hatte sich bereits entschieden, statt im Prinzip weiter auf Kooperation zu setzen, jede Gelegenheit zu nutzen, eigene Vorteile optimal auszuspielen und auf das Zerbrechen der Sowjetunion mit einer russischen Revanche zu antworten. Nach seiner Zerstückelung des ukrainischen Nachbarstaates ist Russland längst dabei, praktisch und handfest die dumme Nebenbemerkung Obamas zu widerlegen, Russland sei letztlich ja doch nur eine beschränkte Regionalmacht. Beschränkt vielleicht, aber nur Regionalmacht kaum. Es sei denn man würde den Nahen Osten zu seiner Region dazu rechnen.

Die neu in den UN verankerte responsibility to protect versuchten gerade europäische Mächte in einen Freischein zur militärischen Intervention umzuinterpretieren, wann immer sie eine Chance sahen, gerade noch umschmeichelte Regime unter Berufung auf die Humanität zu stürzen und sich vielleicht so größere Einflussmöglichkeiten zu verschaffenund ihrerseits Großmachtambitionen geltend zu machen.

Die responsibility to protect als Verpflichtung der UN und nicht dieses oder jenes Staates ist eindeutig an die Entscheidungen des Sicherheitsrates gebunden. Sie war ja gerade auch als Reaktion auf die Dilemmata des Irak-Krieges in die Regularien der UN aufgenommen worden: Einerseits sollte dadurch blutigen Diktatoren signalisiert werden, dass ihre Souveränität an die Pflichten der UN-Mitgliedschaft rückgebunden bleibt, und andererseits galt es, die Mächte und potentielle Interventen wieder auf das UN-Verfahren über die Anwendung von Gewalt festzulegen, das heißt jede äußere Gewaltanwendung, wenn sie nicht unmittelbar der  Selbstverteidigung dient, von der Zustimmung des Sicherheitsrates abhängig zu machen.

Libyen war ein desaströser Test für die "responsibility to protect"

Im Jahr 2011 wurde Libyen zu einem Testfall. Um Bengasi zu schützen, wurde vom Sicherheitsrat eine Flugverbotszone beschlossen, die die libyschen Truppen an einem vermutlich mörderischen Eindringen in die aufständische Stadt hindern sollte. Russland, China und die Bundesrepublik hatten sich enthalten. Die humanitäre Intervention endete mit einem raschen Sturz des Regimes und einem andauernden blutigen Chaos, das inzwischen auch dem IS Gelegenheit bietet, sich in einem weiteren arabischen Land breit zu machen.

Die USA waren in diesem Fall nicht die treibende Kraft, sondern lieferten nur die unerlässliche Unterstützung für die französisch-englischen Initiatoren. Die hatten eine doppelt offene Rechnung mit Gaddafi: für den durch ihn erlittenen Terror und die Schmach, ihn nicht zur Rechenschaft gezogen zu haben. Stattdessen war er immer wieder umschmeichelt worden. Öl sollte er liefern und Flüchtlinge aus Afrika festhalten. Aber die Chance, ihn los zu werden, war zu einladend, um über die Konsequenzen länger nachzudenken. Für ähnliche Fälle wird man jedenfalls kaum noch mit einer Enthaltung Russlands und Chinas rechnen können.

Anders als seinerzeit der ältere Bush, der 1991 nach der Niederlage der irakischen Invasionsarme und ihrer Flucht aus Kuwait, die Einhaltung des UN-Mandats für die Zukunft der Weltordnung höher bewertete als einen möglichen raschen Sturz Saddam Husseins, überzogen die westlichen Interventen und ihre Verbündeten das UN-Mandat für den Schutz Bengasis von Anfang an ohne jede Hemmung.

Wie im Irak-Krieg des jüngeren Bush 2003 zerstörten sie dabei mit dem Sturz des Diktators zugleich die rudimentären Ansätze moderner Staatlichkeit und setzten die unterdrückten Stammes- und Clankonflikte frei. Die Folgen überließen sie der UN-Vermittlung, in der sich der bedauernswerte Martin Kobler ähnlich vergeblich verschleißt, wie es Staffan de Mistura in Syrien tut.

Die Situation in Syrien folgte einem ähnlichen Muster

Die Libyen-Intervention steckte die Präzedenzen ab, die im syrischen Bürgerkrieg aktuell wurden. Wieder war es Frankreich, das sich verbal völlig auf die Seite der Aufständischen schlug und ihnen allein die Legitimität zusprach, das syrische Volk zu vertreten. Mehr oder weniger wohlgemut folgten diesem Vorgehen die meisten anderen westlichen Staaten. Das Assad-Regime war für seine Verbrechen bekannt, von der Zusammensetzung und den inneren Kräfteverhältnissen der bewaffneten Aufständischen wusste man fast nichts.

Es war abenteuerlich, sie quasi in den Status einer nationalen Befreiungsbewegung gegen eine Kolonialmacht zu erheben. Russland dagegen stellte sich gemäß seiner nicht ganz abwegigen Auslegung des Völkerrechts auf die Seite der syrischen Regierung und entschied sich für eine immer weiter ausgreifende Unterstützung von deren Kriegführung. Der Sicherheitsrat war blockiert.

Obamas „rote Linie“ (s.u.) für die Rechtfertigung seiner Entscheidung, nicht direkt in den Bürgerkrieg einzugreifen, enthielt einerseits eine Warnung an die syrische Regierung und war andererseits Ausdruck der kaum verhehlten Abneigung, sich direkt in den syrischen Bürgerkrieg verwickeln zu lassen, ohne die Umrisse für dessen Beendigung irgendwie absehen zu können. Schließlich steckten die USA in Afghanistan und im Irak immer noch in zwei Kriegen, die sie und ihre Verbündeten erfolgreich zu beenden beabsichtigten, was ihnen aber bis heute nicht gelang.

Vom Umgang mit „roten Linien“

Als ein Giftgas-Einsatz durch Kräfte des Regimes nachgewiesen worden war, entschied sich Obama dafür, statt sofort loszuschlagen, den Senat und das Repräsentantenhaus in die Entscheidung über Art und Umfang einer militärischen Intervention einzubeziehen, um nicht zum Getriebenen einer unverantwortlich aufgestachelten öffentlichen Meinung zu werden. Und dann kam ihm eine Nebenbemerkung seines Außenministers Kerry zu Hilfe, der eine Reporterfrage dahin beschieden hatte, ja, die syrische Regierung könne mit einer vollständigen Auslieferung ihrer Chemiewaffen einen Angriff der USA noch vermeiden.

Russland nutzte die Bemerkung sofort für eine diplomatische Initiative. Außenminister Lawrow schlug vor, gemeinsam mit den USA eine entsprechende Übereinkunft mit der syrischen Regierung herbeizuführen. Sie kam zu Stande. Die Chemiewaffen wurden übergeben und der Vernichtung zugeführt. Dass es alle waren, wird niemand beschwören wollen, wurde entsprechend der Vereinbarung aber bestätigt. Mit der Durchführung der Vereinbarung erwies sich das syrische Regime, obwohl mitten im Bürgerkrieg, als erstaunlich handlungsfähig. Völkerrechtlich wurde seine Stellung gestärkt.

Die Zeitfenster für Verhandlungen wurden nicht genutzt

Zu diesem Zeitpunkt wäre ein Versuch, zu einer Verhandlungslösung zu kommen, erneut sinnvoll gewesen. Er hätte alle interessierten ständigen Mitglieder des Sicherheitsratsrats und die interessierten, bereits in den Bürgerkrieg verwickelten rivalisierenden Regionalmächte, also auch den Iran, einbeziehen müssen, statt sich die Agenda und den Rahmen der Verhandlungen von der einen Seite der Bürgerkriegsparteien vorschreiben zu lassen. Zu Beginn des Bürgerkriegs war ein solcher Versuch schon einmal versäumt worden, weil von der Führung der bewaffneten Opposition als Vorbedingung verlangt wurde, was allenfalls Ergebnis einer Friedensvereinbarung sein konnte, die Entmachtung Assads.

Die meisten westlichen Mächte hatten sich mindestens genau so einseitig die Forderungen der Opposition zu eigen gemacht, wie Russland und der Iran die Sache der syrischen Regierung zu ihrer eigenen machten. Die zerstörerische Dynamik eines Bürgerkrieges, der zunehmend Züge eines Hegemonialkrieges unter Regionalmächten annahm und schließlich an einen Stellvertreterkrieg von Großmächten erinnerte, wäre vielleicht zu stoppen gewesen, ehe sie voll in Gang kam. Jetzt liegen die Beobachter, die die Region am Beginn eines nahöstlichen Dreißigjährigen Krieges sehen, womöglich ganz richtig.

Fehler können korrigiert werden - genau wie bei den Verhandlungen mit dem Iran

Die USA waren und sind immer noch in der Lage, die Fehler zu korrigieren, für die vor allem europäische Staaten, Saudi-Arabien und die Türkei verantwortlich sind. Nur so können sie ja ernsthaft erfolgversprechende Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen anstreben.

Aber ohne Obama? Ohne ihn und seinen Außenminister wäre jedenfalls die Korrektur eines ähnlichen Grundfehlers der Nuklearverhandlungen mit dem Iran nicht möglich gewesen. Auch hier war eine Verhandlungslösung solange völlig ausgeschlossen, wie dem Iran, anders als allen anderen Unterzeichnern des Atomwaffensperrvertrags, jegliche Atomanreicherung grundsätzlich untersagt werden sollte. Der Iran hätte sich bei einem solchen Zugeständnis zugleich der Diffamierung als „Schurkenstaat“ beugen müssen. Das konnte vernünftigerweise niemand verlangen. Es wurde aber über Jahre hin als Grundvoraussetzung jeder Einigung herausgestellt.

Das hatte geheißen, an den Beginn der Verhandlungen die Forderung nach Kapitulation des Kontrahenten zu setzen. Bei solchem Vorgehen kann dann auch jeder schließlich erzielte Kompromiss, der notwendigerweise von den unerfüllbaren Ausgangsbedingungen abweichen muss, im eigenen Lager als Verrat diffamiert werden. So ist es ja dem Kompromiss mit dem Iran in Israel und in Teilen der öffentlichen Meinung der USA auch ergangen. Solche Vorwürfe muss man aushalten können, wenn man tatsächlich erfolgreich verhandeln will.

Unannehmbare Vorbedingungen machen Verhandlungen unmöglich

Vorbedingungen, die vom Gegner und potentiellen Feind verlangen, sich vorab bedingungslos zu unterwerfen, schließen Verhandlungen in Wahrheit aus – bewusst oder aus Dummheit. Mit dieser politischen Praxis hat Obama in den Verhandlungen mit dem Iran Schluss gemacht, und er hat sich auch gegenüber dem syrischen Bürgerkrieg einer entsprechenden Politik unannehmbarer Vorbedingungen nach und nach entzogen.

Ob er damit einer Beendigung des syrischen Bürgerkriegs nähergekommen ist, muss sich erst noch zeigen. Und es wird davon abhängen, ob seine wohl immer noch wahrscheinlichere Nachfolgerin oder der inzwischen wieder gar nicht mehr ganz unwahrscheinliche Nachfolger in der Präsidentschaft zu entsprechender Bedachtsamkeit in der Lage sind.

Bedachtsamkeit als Haltung

Bedachtsamkeit ist die Grundbedingung internationaler Ordnungspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges. Den sich seit Jahren hinziehenden und immer wieder neu entfachenden kriegerischen Auseinandersetzungen rund um die Welt und speziell in den Regionen, die die Rivalität der beiden Supermächte für einige Zeit stillgestellt hatte, wird nur durch eine gemeinsame Anstrengung der UN und des Sicherheitsrats Einhalt geboten werden können. Die ungelösten Staatsbildungsprozesse brachen zuerst in der ehemaligen Sowjetunion auf und führten dann im Balkan zu ersten kriegerischen Auseinandersetzungen.

Am Ende einer solchen gewalttätigen Entwicklung könnten die UN, wenn sie ihrer Aufgabe, diese Auseinandersetzungen einzuhegen, nicht nachkommen, es mit einer Reihe von fragilen Imperien, kämpfenden regionalen Clans und Stämmen und nach Territorialherrschaft strebenden Religionen und Konfessionen zu tun haben. Sie wären gescheitert wie seinerzeit der Völkerbund. Die Lage als dramatisch zu bezeichnen, könnte sich dann schon bald als Understatement erweisen.

Außenminister Steinmeier warnte unlängst in einem Gespräch mit der Bild-Zeitung erneut vor einem „Rückfall in Zeiten der Konfrontation zwischen zwei Großmächten“. Der Konfliktstoff zwischen den USA und Russland wachse an. Dennoch sei es falsch, die Situation mit dem alten Kalten Krieg gleichzusetzen. „Die neuen Zeiten sind anders, sind gefährlicher. Früher war die Welt zweigeteilt, aber Moskau und Washington kannten ihre roten Linien und respektierten sie.“ Das ist natürlich eine Beschönigung des Kalten Krieges und ein verklärter Rückblick von seinem Ende her, zu dem es kam, weil es gelungen war, bei verschiedenen Gelegenheiten das Schlimmste zu verhindern, und Gorbatschow schließlich nichts Anderes übrigblieb, als darauf zu setzen, dass die USA die Schwäche der Sowjetunion nicht als Sieg ausbeuten würden. Der ältere Bush hatte das auch versprochen.

Wir befinden uns in einem gefährlichen Lernprozess

Im Übrigen sollte man nicht vergessen, dass in der Zeit des Kalten Krieges der Vietnamkrieg tobte, dessen Verwüstungen heute noch nicht überwunden sind, und mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan dort eine großmachtinfizierte Bürgerkriegssituation ausgelöst wurde, die unter veränderten Umständen bis heute andauert.

Man darf den Kalten Krieg nicht als eine Phase der Stabilität missverstehen, sondern muss ihn als gefährlichen Lernprozess begreifen, in dem die beiden Seiten schließlich die Kunst des Balancements einigermaßen zu beherrschen lernten. Die Überwindung der Kubakrise im Januar 1963 war dabei ein erster entscheidender Schritt.

Vielleicht ist es am besten, auch die gefährlicheren „neuen Zeiten“ als Phase eines schwierigen und höchst gefährlichen Prozesses zu begreifen, in dem die durch das Ende der Bipolarität freigesetzten Kräfte lernen müssen, sich gegenseitig einzuhegen und über eine gemeinsam gewollte Ordnung zu verständigen. Der große Vorteil ist, dass die Institutionen einer solchen internationalen Ordnung mit den UN bereits vorhanden sind und auch die Regeln für ein gemeinsames Auskommen nicht neu erfunden werden müssen.

Polarität hat sich als Grundprinzip dem außenpolitischen Denken eingeprägt

Die Welt hatte sich an den Ordnungsmechanismus der Bipolarität so gewöhnt, dass sie seither ohne Ordnungsmechanismus nicht mehr auszukommen scheint. Sehr früh, nämlich schon vor Mitte 1990, hat sich der amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer mit dem Problem befasst, wie ohne Bipolarität der Frieden gesichert werden könne. In einer gründlichen Abwägung der Vorteile einer bipolaren gegenüber einer multipolaren Ordnung kam er zu dem Schluss, dass vor allem Europa der Rückfall in alte, nämlich multipolare Rivalitäten drohe, durch die der Frieden insgesamt gefährdet werden könne.

Anders als polar konnte er sich die internationale Ordnung nicht vorstellen. Angesichts der Aussicht auf eine womöglich multipolare Welt schloss er mit der depressiven Prognose: „Wenn der Kalte Krieg wirklich hinter uns liegen sollte, werden wir eine ähnliche Stabilität wie in den vergangenen 45 Jahren in den nächsten Jahrzehnten kaum wieder zu sehen bekommen“ (International Security, Summer 1990, S. 56).

Die Vorstellung einer unipolaren Weltordnun war ihm als „Realisten“ damals nicht in den Sinn gekommen, und er kritisierte sie, als sie in den USA zur herrschenden Ordnungsvorstellung geworden war. Aber ohne polar zu denken, ging es meist nicht. Dabei legt es der Ausdruck „polar“ einerseits nahe, in grundsätzlichen Gegensätzen zu denken, ohne diese doch als antagonistisch, das heißt nur gewaltsam lösbar, zu definieren. So klar sich polares Denken gibt, so verschwommen kann es bleiben.

Ideen für eine nicht-polare Weltordnung

Die Weltordnung als nicht polar zu denken, gelang Mearsheimer ebenso wenig wie auch wie den meisten Vordenkern einer amerikanischen Grand Strategy. Richard Haass immerhin, Chef des Planungsstabs im State Departement unter Außenminister Powell, dachte über globale Integration der Staatenwelt als Antwort auf die ökonomische Globalisierung und die Mobilität der Gesellschaftswelt nach. Er sah die Möglichkeiten einer nicht-polaren Weltordnung und plädierte für sie als politische Leitlinie („The Age of Nonpolarity“, Foreign Affairs 03/2008).

Lange im Amt blieb er nicht.  Als Präsident des Council on Foreign Relations wurde er aus der operativen Planung in die Höhen akademischer Meinungsbildung befördert. Die Bush-Administration blieb von Individuen geprägt, die sich von einer Verständigung unter den Mächten unterschiedlicher Interessen, aber gleicher Rechte nichts versprachen.

Ohne langen Atem ist eine nicht-polare Weltordnung nicht zu verwirklichen

Aktuell auf eine nicht-polare Weltordnung zu setzen und so zu tun, als wäre sie durch gutes Zureden alsbald zu erreichen, wäre sicher verfehlt. Aber die Chance, einer nichtpolaren Weltordnung näher zu kommen, ist in den Institutionen der UN und den Regeln des Völkerrechts angelegt und war in den 1990er Jahren durchaus vorhanden. Sie wurde nicht durch den Anschlag auf das World Trade Center zerstört, sondern durch den Krieg im Irak, der als Beginn des Angriffs auf die „Achse des Bösen“ den vermuteten „unipolar moment“ in die absehbare Zukunft verlängern sollte.

Obama hatte immer diese nicht-polare Weltordnung im Sinn und wusste zugleich, welch langer Atem nicht allein der USA nötig wäre, um sie zu verwirklichen. Erst in einer solchen nicht-polaren Staatenwelt wäre der Kampf gegen den terroristischen Islamismus mit argumentativen und polizeilichen Mitteln gemeinsam und wirksam zu führen. Obama hat den „Krieg gegen den Terror“ seines Vorgängers auf den Kampf gegen Terroristen herabgestuft und damit zugleich, was Überwachung und selektive Vernichtung betrifft, perfektioniert.

Die Bereitschaft, dabei die moralische Verantwortung selbst zu übernehmen, konnte fast perverse Formen annehmen, etwa mit der persönlichen Abzeichnung von Abschusslisten für Drohneneinsätze oder mit der Verfolgung des letzten Jagdzugs gegen Osama bin Laden am Bildschirm in Echtzeit. Perfektionierung der Überwachung und möglichst zielgerichteter Drohneneinsatz scheint die Konsequenz von Obamas Bemühen zu sein, den Kampf gegen Terroristen aus dem Schlachtfeld von Staatenkriegen herauszulösen.

Der Drohnenkrieg ist Ausdruck einer unipolaren Denkweise

Dabei bleibt sein Handeln einer unipolar verstandenen Welt verhaftet, wenn amerikanische Drohnen über alle Grenzen hinweg und auf Grund des Urteils des amerikanischen Präsidenten Hinrichtungen vollstrecken und in Kauf nehmen, dass dabei unvermeidlich auch Menschen hingerichtet werden, gegen die nicht einmal ein Urteil des amerikanischen Präsidenten vorliegt.

Auf die Versuche Obamas, den Kampf gegen den Terror aus dem Kontext von Staatenkriegen zu lösen, hat der sogenannte Islamische Staat durchaus konsequent mit der Gründung eines Kalifats und der Errichtung einer Territorialherrschaft über bestehende Staatsgrenzen hinweg geantwortet. Deshalb gelingt es nicht, den Kampf gegen die Terroristen aus dem Kontext von Staatskriegen wirklich zu lösen.

Die Verwilderung der völkerrechtlichen Sitten

Manchmal führen einem zeitgleiche Wahrnehmungen besonders drastisch vor Augen, wie weit die Verwilderung der völkerrechtlichen Sitten bereits vorangeschritten ist. Andreas Ross berichtete in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagzeitung vom 18. September über ein Gespräch mit Derek Chollet, einem früheren Berater Obamas. Besonders in Syrien tue sich Obama schwer, das Risiko militärischer Interventionen mit der Notwendigkeit regionaler Bündnisse abzuwägen, meint Andreas Ross.

Dabei hätte es laut Chollet nicht an Ideen gemangelt, wie man die Sorge vor einer zu tiefen Verwicklung in den syrischen Bürgerkrieg hätte umgehen können, ohne auf eine militärische Intervention zu verzichten.

„Nachdem die Air Force wegen der Offensive gegen den IS sowieso schon im syrischen Luftraum aktiv (aber noch nicht von Russland bedrängt) war, hätte man beispielsweise ,Zweideutigkeiten ausnutzen‘ und auch ‚Assads Truppen gelegentlich eine Bombe in den Weg werfen‘ können“.

Diese und ähnliche verdeckte Eingriffe hätten wichtige Gesten für Assads Gegner und auch wohl für Assad und seine Verbündeten sein können, so Andreas Ross unter Berufung auf Derek Chollet.

Die Wahrheit wird zum Hybriden

Die Vorgehensweisen könnten aus dem russischen Handbuch zur hybriden Kriegsführung stammen. Abends war dann im Radio zu hören, es hätte einen US-geführten Angriff auf ein Militärlager syrischer Regierungstruppen gegeben. Am 19.9. war etwa im Tagesspiegel zu lesen: „Verhängnisvoller Luftschlag. Die Waffenruhe in Syrien droht zu scheitern. Eine von den USA geführte Koalition tötet offenbar irrtümlich mehr als 60 syrische Regierungssoldaten“. Die USA und Australien hätten ihr Bedauern über den irrtümlichen Angriff ausgedrückt, der eigentlich dem IS gegolten hätte. War das eine solche Ausnutzung von „Zweideutigkeiten“? Die Antwort der Gegenseite war der Angriff auf einen Hilfskonvoi für Aleppo, für die niemand je die Verantwortung übernahm. Der Waffenstillstand fand damit definitiv sein Ende.

Missverständnis, Versehen, Absicht, Absicht von Teilen des Militärs, die Zweideutigkeiten nicht nur gegenüber dem Gegner, sondern auch gegenüber der eigenen Führung nutzen? Die Vermengung von Bürgerkriegen mit Hegemonialkriegen unter Regionalmächten und Stellvertreterkriegen unter den ehemaligen Supermächten mit dem angeblich gemeinsamen Krieg gegen den islamistischen Terror in Gestalt des IS oder unter anderen phantastischen Kampfnamen agierenden Banden, das Herumbomben in fremden Staaten, etwa auch im Jemen und jetzt bei dem Kampf um Mossul, hat inzwischen Formen angenommen, in denen längst die Wahrheit selbst zum Hybrid geworden ist. Auch die Ergebnisse von internationalen Untersuchungen über den Abschuss der malaysischen Passagiermaschine über der Ukraine kann man ja einfach ablehnen.

Verständigung ohne Obama wird nicht einfacher

Man sollte sich nicht allzu lustig machen über einen wie den deutschen Außenminister, der keinen Vorwurf der Wiederholung und Redundanz scheut, wenn er immer erneut an die Vernunft aller Beteiligten appelliert und feststellt, dass die neuen Zeiten gefährlicher als der Kalte Krieg seien und es deshalb unbedingt notwendig sei, im Gespräch zu bleiben.

Natürlich ist auch die Bundesrepublik Deutschland in das undurchsichtige Gestrüpp von in einander verwickelten Kriegen verstrickt. Was klären denn die Aufklärungsflüge der Bundeswehr von der Türkei aus genau auf? Man darf die Bemühungen der Bundesrepublik um Verständigung ernstnehmen, doch leider verliert sie mit Obama den entscheidenden Verbündeten. Er steckte von vornherein in der Sackgasse und hat wohl gerade deshalb verstanden, wie dringend notwendig es ist, da wieder herauszukommen. Wenden in der Sackgasse? Acht Jahre reichen dafür offensichtlich nicht aus.