Hamburg: Wie offen ist das Bildungssystem für Geflüchtete?

Ursula Neumann
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Ursula Neumann

Rund ein Viertel der Flüchtlinge, die in Deutschland aufgenommen werden, sind minderjährig. Ihnen eine gute Bildung zu ermöglichen, ist die integrationspolitische Herausforderung für alle Länder. Wie schafft das beispielsweise Hamburg?

Das Bildungssystem hat Jahre weitreichender Reformen hinter sich, es kann heute besser mit der Realität der Einwanderungsgesellschaft, mit Mehrsprachigkeit und Heterogenität umgehen. Doch halten diese Reformen auch der aktuellen Situation stand? Hamburg rühmte sich lange Zeit, sein Bildungssystem den modernen Migrationsrealität angepasst zu haben. Halten oder bröckeln die Reformstandards? Wer könnte das besser wissen als Ursula Neumann. Die emeritierte Professorin der Universität Hamburg war von 1999 bis 2002 Hamburger Senatsbeauftragte für Fragen der Migrationspolitik und war beteiligt an der Entwicklung des Hamburger Sprachförderkonzeptes. Günter Piening besuchte sie in Hamburg.
 

Im Bildungsbereich hat es gewaltige Reformanstrengungen gegeben. Und anders als noch in den 1990ern, als Kinder von Geflüchteten erst dann schulpflichtig wurden, wenn die Eltern eine Anerkennung als Asylberechtigte hatten, ist heute die Schulpflicht von Anfang an ziemlich selbstverständlich. Gelingt nun die schnelle Integration von Flüchtlingskindern in das Hamburger Schulsystem besser?

Ursula Neumann: Wir haben heute in der Tat ganz andere Bedingungen als in den 90ern, als die Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen. Alle Länder haben ihre Bildungssysteme modernisiert. In Hamburg wurde 2006 mit dem Sprachförderkonzept festgelegt, in welche Richtung sich das Schulsystem aufzustellen hat.

Die Grundsäulen des Hamburger Konzeptes sind:

  • zusätzliche Mittel für Kinder, die nachgewiesene Nachteile in Bezug auf ihre sprachliche Bildung haben
  • Sprachlernberater an jeder Schule, die für die Erarbeitung eines Sprachförderkonzeptes verantwortlich sind
  • das System des herkunftssprachlichen Unterrichts
  • ein Monitoring aller Maßnahmen zur Qualitätssicherung
  • und Aufnahmekonzepte für Neuankömmlinge – die „Internationalen Vorbereitungsklassen“, in denen Kinder allerdings nur ein Jahr bleiben dürfen, dann müssen sie in das normale Regelsystem. Sonst würde ein neues Sonderschulsystem entstehen.

Diese Rahmenbedingungen gelten auch für Flüchtlinge, ergänzend kommt dazu ein besonderer Unterricht, solange die Kinder in der Erstaufnahmeeinrichtung sind.

„Noch werden die Standards eingehalten“

Da wurden Ansprüche formuliert in Zeiten, in denen wir nur eine geringe Neuzuwanderung hatten. Schafft es Hamburg, diese auch unter veränderten Bedingungen zu realisieren?

Sicher, das steht derzeit auch in Hamburg auf der Kippe. Die 400 neu eingestellten Lehrkräfte reichen bei weitem nicht aus. Und die Beschulung von Flüchtlingskindern in der Regelschule führt mehr und mehr dazu, dass wegen fehlender Räumlichkeiten Kinder in einem anderen Stadtteil in die Schule gehen. Aber alles in allem scheinen die Standards noch eingehalten zu werden. Die Bildungsreformen haben eine Überprüfbarkeit geschaffen, es geht heute viel systematischer zu, das schafft Stabilität. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um Ziele, die unter anderen Bedingungen geschaffen wurden, auf die heutige Lage zu übertragen. Es sind heute Leute in der Schulbehörde, die dieses als eine wichtige Aufgabe akzeptieren und nicht als lästiges Übel sehen wie in den 90ern.

Zu berücksichtigen ist auch, dass sich der Grundton der Flüchtlingsaufnahme insgesamt geändert hat. Jeder sieht, dass die Leute bleiben, jeder sagt, deswegen sollen sie von Anfang an Deutsch lernen. Das Dogma, dass Integrationsmaßnahmen erst nach der Anerkennung als Asylberechtigter beginnen dürfen, gilt nicht mehr – das ist ein großer Fortschritt. Diese Haltung zeigt sich auch jenseits des Schulsystems. Die Integrationskurse nach dem Aufenthaltsgesetz sind für Asylsuchende eigentlich gar nicht vorgesehen. Aber alle wollen, dass auch Flüchtlinge teilnehmen können. Hamburg hat dafür sogar eigenes Geld in die Hand genommen.

Da spielt wohl auch die bessere Arbeitsmarktsituation eine Rolle. Flüchtlinge sind nun auch den Unternehmen willkommen und der Zugang zum Arbeitsmarkt ist gesetzlich geöffnet worden.

Das schafft für Jugendliche erhebliche Möglichkeiten. Früher durften sie keine Ausbildung machen, heute wird das gefördert. Durch die Einrichtung dualer Bildungsgänge – also von Klassen, in denen ein Teil der Stunden als Praktikum im Betrieb und ein Teil in der Schule verbracht werden – wurden neue Zugänge in die Ausbildung geschaffen. Dieses soll in Hamburg jetzt auch für die Neuankömmlinge angepasst werden. Hamburg hat die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten als Bestandteil des Konzeptes „Wachsende Stadt“. Das ist gut und richtig, aber auch ausgesprochen anspruchsvoll. Denn die Betriebe müssen mitmachen und da gibt es wohl noch einigen Aufklärungsbedarf.

„Öffnung der Oberstufen und der Universität nötig“

Das hört sich alles nach einer gewissen Zufriedenheit an. Wo besteht Bedarf an weiteren Reformschritten?

Immer denken noch viel zu viele: das heute ist eine Ausnahmesituation, eine Welle, die wieder abebbt. Davon sollten wir uns verabschieden. Dann aber müssten wir in der Tat einige weitergehende Schritte gehen:

  1. Das Bildungssystem sieht Einwandererkinder immer als tendenzielle Hauptschüler. Das ist die Erbschaft der Gastarbeiterkinderdiskussion. Die Hauptinvestitionen sind im Kita- und Grundschulbereich gemacht worden. Das war richtig. Aber wenn nun viele Kinder von außen kommen, darf man dabei nicht stehenbleiben und muss auch die Aufnahme in das allgemeine Bildungssystem der Oberstufe und der Universitäten stützen.
  2. Die Frage der Mehrsprachigkeit geht auch in Hamburg, wo die Herkunftssprache in der Schule seit 2006 eine wichtige Rolle spielt, angesichts der Frage „Deutschlernen“ unter. Das ist falsch und kurzsichtig. Wir brauchen viele Arabischkurse an Schulen, wir brauchen vor allem eine Auseinandersetzung der Mehrheitsgesellschaft mit dieser sich erweiternden Mehrsprachigkeit. Die Forderung nach Anerkennung von Mehrsprachigkeit ist alt, aber wichtiger denn je.
  3. All das muss in einer entsprechend angepassten Lehreraus- und Fortbildung verankert werden. Es gibt derzeit fast keine Möglichkeit, Lehrerin oder Lehrer für Deutsch als Zweitsprache zu werden.

Nicht vergessen werden dürfen die Folgen der asylrechtlichen Verschärfungen. Wenn Familien künftig sechs Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung bleiben müssen, heißt das auch, dass die Kinder in dieser Zeit keine reguläre Schule besuchen. Das ist verheerend.

Ich möchte auf einen Akteur zu sprechen kommen, der auch bei der Begleitung von pädagogischen Prozessen eine wachsende Rolle spielt: Die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Ich sehe da nicht nur Licht. Manchmal scheint mir da ein ziemlich paternalistisches Weltbild vorzuherrschen, dass den Flüchtling zum Objekt der Fürsorge macht. Hilfe kann auch als demütigende Bevormundung empfunden werden.

Es gibt in der Tat Anfragen von Flüchtlingsinitiativen, die mit einem bestimmten Unterstützertyp – ich sag mal provokant: die Hausfrau aus dem Besser-Verdienenden-Viertel, die sich gut dabei vorkommt, eine gute Tat zu tun – Probleme hat und anfragt, ob wir nicht eine Fortbildung in Antirassismus machen könnten. Manchmal lässt man darum Helfer gar nicht erst an die Flüchtlinge heran. So war es in der großen Kleiderkammer in den Hamburger Messehallen. Da konnte jeder, der wollte, Kleider sortieren - Kontakt mit den Flüchtlingen aber war nicht vorgesehen. 

„In den Helfergruppen ist viel multikulti“

Aber diese Haltung ist nicht prägend, die Unterstützerszene ist sehr vielfältig mit sehr vielen Ressourcen. In Hamburg gibt es z.B. das Engagement der Moscheen rund um den Hauptbahnhof. Dort können Transitflüchtlinge essen und übernachten. Das würde niemand als Bevormundung empfinden. Das ist tätige Hilfe. Oder die Studierenden. Ich kann mich nicht daran erinnern, eine solche Aktivität jemals erlebt zu haben. Man organisiert die ehrenamtliche Arbeit am Hauptbahnhof, organisiert Unterstützung über Facebook von der Sprachvermittlung bis hin zu Welcome-Dinner-Parties, also Einladungen zum gemeinsamen Abendessen.

Viele Aktive in diesen Unterstützergruppen haben selbst Fluchterfahrung. In den Helfergruppen ist sehr viel multikulti. Da weiß man, dass man dafür sorgen muss, dass die Leute die Sprache der Ankömmlinge sprechen, und organisiert das Matching über Facebook. Das Bewusstsein für die Bedeutung von Mehrsprachigkeit ist stark ausgeprägt. Früher hieß es eher „Die sollen Deutsch lernen“. Das ist heute anders, die Gesellschaft hat gelernt, besser mit Heterogenität umzugehen, vor allem die jungen Leute, die damit aufgewachsen sind.

Das führt mich zu der Frage, was eigentlich die Unterstützer/innen selbst durch ihr Engagement lernen. Politisieren sie sich, wächst hier gar eine neue Menschenrechtsbewegung heran?

Die Ehrenamtlichen lernen einen Aspekt der Gesellschaft kennen, den sie nicht kannten. Dass bestimmte Rechte nichts wert sind, dass man mit Menschen in einer Art umgeht, die eigentlich nicht sein kann - das alles stimmt mit ihrem Weltbild nicht überein. Dazu kommt die Überforderung, weil staatliche Institutionen versagen. Es gibt viele, die sagen, jetzt erst recht - und verstärkt weitermachen. Manchmal ist auch eine Quelle des Engagements, dass man merkt, dass diese Arbeit einem selbst Kompetenzen bringt – zum Beispiel Sprachkenntnisse.

Zu den mittelfristigen Politisierungsprozessen gibt es noch keine empirisch gesicherten Erkenntnisse. Meine Einschätzung ist: Dieses große bürgerschaftliche Engagement zielt auf die Unterstützung von Flüchtlingen. Das kann durchaus auch zum Unterlaufen von repressiven staatlichen Vorgaben führen. Dass sich hieraus aber eine Menschenrechtsbewegung zur Verteidigung eines Grundrechts entwickelt, sehe ich noch nicht.

Eine aktuelle Positionsbestimmung der rotgrünen Bildungspolitik findet sich in dem Antrag „Gute Schule von Anfang an – Bildung für die nach Hamburg geflüchteten Kinder und Jugendlichen“, der hier als Download vorliegt.
 

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Hamburg finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).

Zur Person
Ursula Neumann, geb. 1949, ist Professorin am Institut für Internationale und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe DiVER, Diversity in Education Research, und stellvertretende Direktorin der Akademie der Weltreligionen.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildung und Migration, Integrations- und Migrationspolitik, Interkulturelle Erziehung, Bildungssituation junger Flüchtlinge, Ausländer- und Asylrecht, Religion und interreligiöser Dialog.
In den Jahren 1999 bis 2002 war Ursula Neumann Beauftragte des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg für Fragen der Migrationspolitik. Sie war bis 2014 Mitglied im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Berlin. Seit 2004 ist sie Vorstand der Stiftung "umdenken", der Landesstiftung der Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg. Sie ist Mitglied im Rat für Migration.

Wichtige Veröffentlichungen:
Neumann, U.: Erziehung ausländischer Kinder. Erziehungsziele und Bildungsvorstellungen in türkischen Arbeiterfamilien. Düsseldorf 1980.

Gogolin, I./ U. Neumann: Großstadt-Grundschule. Münster, New York.

Neumann, U., H. Niedrig, J. Schroeder und L. H. Seukwa (Hrsg.): Lernen am Rande der Gesellschaft. Bildungsinstitutionen im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Münster, New York 2003.

Neumann, U., J. Schneider (Hrsg.): Schule mit Migrationshintergrund. Münster: Waxmann 2011.

Neumann, U., Marika Schwaiger: Interkulturelles Schülerseminar (IKS). Münster: Waxmann 2015.