Stimmen des Protests in Zeiten des Krieges

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In einer Notunterkunft in Kiew: Gibt es ein Wohnungsbauprogramm für diejenigen, die nicht in ihre Häuser zurückkehren können?

Ein erster Schritt zur Besserung der Lage in der Ukraine besteht darin, die Existenz der Gewalt voll und ganz zu benennen. Ein zweiter wäre die Erkenntnis, dass das Projekt eines Sozialstaates genauso wichtig ist wie ein Friedensplan.

Der Krieg, der seit dem Mai 2014 im Osten der Ukraine andauert, verdrängt alle übrigen politischen Agenden aus unserem Bewusstsein. Nichts ist irrsinniger als die offene Gewalt, die sich in den besiedelten Gebieten der Ostukraine entwickelt hat. Der Anblick der zusammengeschossenen Städte, die gleichsam für eine nicht existierende Schuld bestraft werden, erscheint irreal.

In Europa haben sich sowohl Medien als auch Zivilgesellschaft bis zuletzt gegen den Gedanken an einen solchen Krieg gesperrt. Lange Monate schienen mir deutsche Reportagen von der ukrainischen Frontlinie überzogen vorsichtig zu sein. Der Krieg wurde nicht Krieg genannt. Die russischen Truppen, die regulären oder freiwilligen Bataillone, die schweren Waffen wurden lediglich als „möglicherweise in der Ukraine befindlich“ bezeichnet.

Diese sich wahrscheinlich dort befindenden Streitkräfte zerstörten Woche um Woche ostukrainische Städte und Siedlungen. Irgendwann habe ich verstanden, dass die in diesem Krieg Umgekommenen schon nicht mehr gezählt werden. Die Zahlen, die heute von Experten genannt werden, liegen zwischen 6.000 und 10.000 Ukrainer/innen, die seit Mai 2014 umgekommen oder verschollen sind, und bei 1.500 bis 3.000 Personen, die sich immer noch in Gefangenschaft der Separatisten befinden.

Die Taktik von Verhandlungen und Sanktionen, die von der Europäischen Union gewählt wurde, um sich dem Krieg entgegenzustellen, ist wohl einer der möglichen Ansätze. Deren Wirksamkeit wird sich erst noch zeigen. Doch hat diese Taktik einen wesentlichen Nachteil, ein unlösbares Problem, das alles in Frage stellt.

Die langsame, ausgewogene politische Reaktion Europas ist auf schmerzliche Weise nicht der Radikalität der militärischen Aggression und der Geschwindigkeit angemessen, mit der Dörfer, Städte, Bezirke und die dort lebenden Menschen vernichtet werden. Sie ist nicht der realen Politik angemessen, deren Herausforderungen die ukrainische Gesellschaft Tag für Tag zu bewältigen hat.

Angesichts der nur kurzzeitigen Waffenstillstände die Funktionsfähigkeit mal dieser, mal jener politischen Taktik zu erproben, erscheint als unzulässiger Luxus, ja als Haltung, die uns von aktuellen Fragen und Aufgaben ablenkt. Die radikale Gewalt erfordert sofortige Entscheidungen, ein Zögern würde die Grundlage einer jeden politischen Reaktion darauf unterminieren. Die erste Lösung muss darin bestehen, die Existenz dieser Gewalt voll und ganz zu benennen.

Soziale Absicherung bis auf Weiteres nicht aktuell?

Bei einer Diskussion der Sozialpolitik in der Ukraine können die anhaltenden Kampfhandlungen nicht außer Acht gelassen werden. Der Krieg ist der Hauptgrund für den spürbaren wirtschaftlichen Rückgang in der Ukraine. Er gerät bisweilen zur zynischen Begründung für jede Art antisozialer Politik der neuen ukrainischen Regierung, für jede Art Fehler, die eine Verarmung, eine frappante Verschlechterung des Lebensstandards, eine Einschränkung der sozialen Möglichkeiten nach sich ziehen.

Hier nur einige der wichtigsten, noch immer ungelösten Fragen: Der Status eines Flüchtlings aus den östlichen Landesteilen führt praktisch kaum zum Erhalt einer Wohnung oder einer neuen Arbeit. In der Ukraine sind nun Dutzende Flüchtlingslager eingerichtet worden, wo jene Personen, deren Häuser zerstört wurden, auf unbestimmte Zeit hausen werden. Gibt es ein Wohnungsbauprogramm für diejenigen, die lange Jahre nicht in die von den Separatisten eroberten Gebiete werden zurückkehren können? Hat eine systematische Arbeit begonnen, die diejenigen, die von diesem Krieg betroffen sind, dabei unterstützt, sich unter neuen Lebensbedingungen zurechtzufinden, ein vollwertiges Leben zu führen, eine Wohnung und Aussichten für die Zukunft zu haben?

Solange es keine positive Antwort auf diese einfachen Fragen gibt, laufen wir Gefahr, uns bald in einer veränderten Nachkriegswelt wiederzufinden, in der ein Teil der ukrainischen Gesellschaft jahrzehntelang durch finstere, hoffnungslose Armut gelähmt wird. Die zunehmende soziale Ungleichheit, die damit verbundene Schmälerung der Rechte und Freiheiten in der Ukraine und der zynische oligarchische Kapitalismus waren der Grund für die Protestbewegung von 2013/2014. Der Maidan wird unter anderem deshalb als Revolution der Würde bezeichnet, weil deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegen die erniedrigende Aussichtslosigkeit der verarmenden ukrainischen Provinz kämpften.

An der Schwelle einer sozialen Katastrophe

Separatistisch sind in erster Linie jene Städte der Ostukraine, wo in den 1990er Jahren die Kohleminen gnadenlos geschlossen wurden. Ganzen Städten und Siedlungen wurde die Möglichkeit zur Entwicklung genommen, so dass sie kaum überleben konnten. In der Praxis gab es in diesen Städten des Gebietes Donezk keine Pflicht zu elementarer Schulbildung; die Kinder begannen schon mit zwölf in den illegalen Kohleminen zu arbeiten. Und diese Städte wurden als erste zur Beute der Propaganda Russlands und der Separatisten.

Es ist in der Ukraine nicht nur versäumt worden, diese Lehren zu beherzigen – es wird dem Zusammenhang zwischen sozialer Sicherung und Zivilgesellschaft heute keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Die ukrainische Regierung arbeitet an einem Gesetzentwurf, durch den der gesamten Kohlebranche in der Ost- und der Westukraine die Vernichtung droht. Die Kumpel bekommen seit Monaten keinen Lohn ausgezahlt. Die Minen könnten für immer außer Betrieb gesetzt werden, was sehr schnell bis zu 300.000 zusätzlicher Arbeitsloser in der Ukraine bedeuten würde. Das Parlament hebt die Gebühren für kommunale Leistungen an, wobei es sich auf Vorgaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) beruft. Trotz empfindlicher Inflation werden die Löhne und Gehälter in der Ukraine nicht erhöht.

Diese Liste ist längst nicht vollständig. Während ich sie schreibe, wird mir bewusst, dass wir an der Schwelle einer sozialen Katastrophe stehen, deren Grund nicht nur in dem Krieg liegen wird, sondern auch darin, dass elementare Bedingungen für das Überleben und die Existenz der Gesellschaft, für Demokratie sowie Rechte und Freiheiten in der Ukraine ignoriert werden. Das Projekt eines Sozialstaates in der Ukraine ist nicht weniger wichtig als ein Friedensplan. Und ich hoffe, dass die Erfahrungen in Europa dazu beitragen werden, dass sich die Ukraine nicht in dogmatischen liberalen Wirtschaftsreformen verfängt, die ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten oft nicht entsprechen.

Ein Jahr vor dem Maidan war der Traum von einer Revolution, durch die in der Ukraine ein neuer Staat geschaffen werden könnte, in vielerlei Munde. Jetzt sagen viele, es brauche soziale Proteste der Kohlekumpel, des medizinischen Personals und der Lehrer. Dass in einem für das Land derart schwierigen Moment Proteststimmungen entstehen, belegt, wie tief die Krise ist, von der ganze Regionen und Branchen der Ukraine erfasst werden. Wir sollten die Belange der zukünftigen Proteste bereits heute wahrnehmen und alles dafür tun, dass deren konstruktive Forderungen erhört werden.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder