Politik & Wirtschaft: Störungen im System

Politik und Ökonomie bedingen einander. Das gilt in unterschiedlicher Weise für Demokratien und Autokratien genauso wie für Plan- und Marktwirtschaft. Dem westlichen Kapitalismus droht dabei nicht nur von außen Gefahr, sondern auch von innen – durch die zunehmende Monopolisierung.

Index zu politischen Strukturen sowie BIP ausgewählter Länder und Regionen, pro Kopf in US-Dollar, 2022
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Während in Europa und Amerika überwiegend demokratisch regiert wird, werden asiatische und afrikanische Staaten vor allem autokratisch geführt.

Auf Dauer wird Politik ohne eine leistungsfähige Wirtschaft kaum erfolgreich sein. Wenn es Unternehmen nicht gelingt, ausreichend Produkte und Dienstleistungen zu verkaufen, entsteht nicht genügend Einkommen in der Bevölkerung. Denn aus dieser Wertschöpfung besorgt sich der Staat über Steuergesetze seine Finanzmittel, mit denen er Ausgaben finanziert, sozialen Ausgleich schafft und öffentliche Aufgaben erfüllt. Ist der Staat selbst an Firmen beteiligt, profitiert er direkt von entstehenden Gewinnen.

Cover Wirtschaftsatlas

Der Wirtschaftsatlas 2024

Die Klimakrise, schwindende Ressourcen und Umweltverschmutzung fordern einen Wandel. Unternehmen und Banken müssen Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung priorisieren. Neue Gesetze sollen Verschwendung stoppen und die Infrastruktur modernisieren. Der Wirtschaftsatlas 2024 der Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert die Maßnahmen und gibt einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte.

 

Umgekehrt hängt eine erfolgreiche Wirtschaft davon ab, wie gut die Infrastruktur ist (etwa Verkehr, Schulen) und wie Verordnungen, Steuersätze oder Subventionen ausfallen. Darüber kann der Staat nicht nur Krisen abfedern, sondern auch Aufschwung und strukturellen Wandel fördern. Außerdem reguliert und beaufsichtigt der Gesetzgeber Branchen, um die Marktwirtschaft sozial und zunehmend ökologisch auszugestalten. International bereiten politische Entscheidungsträger über diplomatische Beziehungen den Weg für Exporte und Importe vor.

Der klassische Liberalismus glaubt, dass wirtschaftliche und politische Freiheit zusammengehören – und dass das Volk so am meisten profitiert. Repräsentative Demokratie und freie Marktwirtschaft sind in dieser Sichtweise ein überaus erfolgreiches Zwillingspaar. Das damit verbundene Leistungsversprechen hat der damalige Bundeswirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler Ludwig Erhard im Jahr 1957 als Buchtitel abgegeben: „Wohlstand für alle“. Dieses Konzept einer sozialen Marktwirtschaft, das 1946 vom Ökonomen Alfred Müller-Armack erstellt worden war, formuliert einen dritten Weg zwischen freier Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft. In einem freien Spiel von Angebot und Nachfrage, koordiniert über flexible Preise, sorgen unabhängige Firmen für ein maximal mögliches Bruttoinlandsprodukt (BIP). Der Staat fungiert als Regelsetzer und „Schiedsrichter“, der über die Einhaltung eines freien Wettbewerbs wacht („Ordoliberalismus“). In den USA und Großbritannien waren Regierungen (Ronald Reagan, Margaret Thatcher) in den 1980er-Jahren zu einer weitergehenden Laissez-faire-Politik gewechselt. „The business of the business is the business“, formulierte der Ökonom Milton Friedman. Die Wirtschaft habe nur die soziale Verpflichtung, die eigenen Profite zu erhöhen. 

Anteil in Prozent, ausgewählte EU-Mitgliedstaaten, 2022
Frauen leiten vermehrt Betriebe mit weniger als zehn Millionen Euro Umsatz, vor allem im Dienstleistungssektor sowie im Handel und Gastgewerbe.

Die Prinzipien einer liberalen und sozialen Grundordnung haben den Westen nach 1945 wirtschaftlich groß gemacht und politische Macht garantiert. Das Scheitern des staatlichen Kommunismus Ende der 1980er-Jahre schien die endgültige Bestätigung zu sein. Es folgten zwei Jahrzehnte mit Deregulierung, Börsenrekorden und Turbo-Globalisierung. Hunderte Millionen Menschen auf der Welt entkamen der Armut. Weil dieser Neoliberalismus in vielen Bereichen aber zu Unterversorgung und ordnungspolitischem Versagen führte, geriet er an sein Ende. Die Bankenkrise von 2008 stürzte die Weltwirtschaft in eine schwere Rezession. Staaten mussten Geldinstitute mit Steuermitteln retten. Parallel war der Staatskapitalismus chinesischer Prägung seit den 1990er-Jahren zur vermeintlichen Systemalternative geworden. Er schaffte es, wenn auch unter Missachtung der Menschenrechte, den Bürger*innen hohes Wachstum und steigenden Konsum zu sichern – anders als früher der Sowjetkommunismus. Die Ein-Parteien-Diktatur in Peking setzte seither sowohl auf Staatskonglomerate, die mit Dumpingpreisen auf Weltmärkte dringen, als auch auf Privatunternehmen, die unter staatlicher Kuratel moderne Märkte (Datenwirtschaft, Elektromobilität) erobern. Aus dem ökonomischen Erfolg folgt Chinas Anspruch an eine „neue Weltordnung“: Die Volksrepublik solle anstelle der USA zum mächtigsten Staat aufsteigen. Rohstoffmonopole (Seltene Erden, Silizium) dienen als „strategische Waffen“.

Den Marktwirtschaften der westlichen Welt droht aber auch von innen Gefahr – durch die fortschreitende Monopolisierung der Märkte. So haben im Internet fünf US-Konzerne eine kaum mehr zu revidierende Vormachtstellung in wichtigen Geschäften erreicht (Suchmaschinen, Cloud-Services, soziale Netzwerke, E-Commerce). Auch können mächtige Oligopol-Konzerne in verschiedenen Gütermärkten inzwischen überproportional hohe Preise durchsetzen – zur Freude ihrer Aktionär*innen und der Börse. Vor allem in der Vermögensverteilung geht die Schere immer weiter auseinander.  Die EU und die USA haben bereits erste Schritte unternommen, um die Wettbewerbskontrolle zu verbessern und das Ordnungsrecht für global agierende Konzerne zu ändern. Herausgefordert wird das westliche System schließlich durch die Tatsache, dass die Umwelt (Wasser, Luft) nicht mehr wie früher zum Nulltarif nutzbar ist. Umwelt- und Klimakosten erfordern es, für den Verbrauch natürlicher Ressourcen zu zahlen und sie einzusparen. Das stellt alte Wachstumskonzepte infrage, lässt aber neue Märkte entstehen, etwa für Windparks, Solarpaneele oder Energiespeicher. 

Sogenannte Systemstörungen wie der Auto-Abgasbetrug („Dieselgate“) oder der Cum-Ex-Skandal um Steuertricks mithilfe von Banken beeinträchtigen das Vertrauen der Bürger*innen in Politik und Wirtschaft. Laut der Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts 2021/22 für den „Spiegel“ sind 60 Prozent von 3.000 befragten jungen Deutschen der Ansicht, die deutsche Wirtschaftsordnung erfülle die Verheißungen einer sozialen Marktwirtschaft nicht. Und eine weltweit agierende PR-Agentur ermittelte 2020, dass 55 Prozent der befragten Deutschen glauben, der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form schade mehr, als dass er helfen würde. Ein Schluss liegt nahe: Das bisherige System muss als ökologische soziale Marktwirtschaft demokratisch neu gestaltet werden.