Sozialstaat: Sozialpolitik im Wandel

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Für die Schwächsten der Gesellschaft stellen die Veränderungen in der Wirtschaft eine große Herausforderung dar. Der Staat muss die Menschen daher befähigen, auch in Zukunft einer guten Arbeit nachgehen zu können. Dafür braucht es sowohl in der Bildung als auch in den sozialen Sicherungssystemen andere Ansätze.

Durchschnittliche Bruttogehälter in Euro (April 2022) sowie Verteilung der Qualifikationen in Prozent (Mai 2023)
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Ein hoher Bildungsgrad ermöglicht gute Einkommen und schützt vor Arbeitslosigkeit, die unter Akademiker*innen nur 2,2 Prozent (2022) beträgt.

Eine wichtige Voraussetzung, die Transformation sozial verträglich zu gestalten, ist ein intakter Sozialstaat. Er muss in der Lage sein, Lebensrisiken abzusichern, Armut zu bekämpfen und zugleich möglichst alle Bürger*innen zu unterstützen, ihre Fähigkeiten zu entfalten und so ein gutes Leben führen zu können. Das kann nur auf Basis einer funktionierenden Solidargemeinschaft geschehen. Das Augenmerk sollte darauf liegen, die Potenziale der Menschen zu fördern. Besteht dagegen die Erwartung, alles sei für alle zu kompensieren, drängt dies die Politik zu teuren Symbolleistungen. 

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Der Wirtschaftsatlas 2024

Die Klimakrise, schwindende Ressourcen und Umweltverschmutzung fordern einen Wandel. Unternehmen und Banken müssen Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung priorisieren. Neue Gesetze sollen Verschwendung stoppen und die Infrastruktur modernisieren. Der Wirtschaftsatlas 2024 der Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert die Maßnahmen und gibt einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte.

 

Das Grundsicherungssystem in Deutschland hat die im Grundgesetz verankerte Aufgabe, Menschen in Not materiell so abzusichern, dass sie ein Leben in Würde führen können. Um dem Anspruch gerecht zu werden, sollte Sozialpolitik verdeckter Armut entgegenwirken. Dazu gehören eine leicht zugängliche Beratung, die Angst nimmt, sowie das Werben dafür, berechtigte Ansprüche geltend zu machen. Nur so kann das soziale Netz auch Menschen auffangen, die durch die Transformation verlieren könnten.

Wenn Preissteigerungen die Kaufkraft von Bürgergeldempfänger*innen und Menschen mit niedrigen Einkommen weiter abschwächen, müssen staatliche Hilfen zeitnah angepasst werden. Denn steigende Energie- und Lebensmittelpreise treffen diese Haushalte besonders. Die sozialen Sicherungssysteme sollten zugleich Bezieher*innen staatlicher Leistungen im arbeitsfähigen Alter dabei unterstützen, die Rückkehr in eine auskömmliche und bessere Arbeit zu finden. Dafür ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik erforderlich, die den Schwerpunkt auf Aus- und Weiterbildung setzt. In seinem Jahresgutachten 2023/24 hat der Sachverständigenrat der Bundesregierung empfohlen, die Transferleistungen so zu reformieren, dass eine bessere Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt gelingt. Dies reduziere die Armutsgefährdung, da Erwerbstätigkeit besonders gut vor Armut schütze. 

Im Steuer-Transfer-System bestehen demzufolge Reformoptionen, die der Armut vorbeugen, Erwerbsanreize stärken und die privaten Haushalte entlasten. Besonders eine Neugestaltung der staatlichen Leistungen zur Grundsicherung, die die bisher getrennten Transferzahlungen Bürgergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld integriert, kann je nach Ausgestaltung diese Ziele in unterschiedlicher Weise fördern. Zudem würde eine Reform des Ehegattensplittings Erwerbsanreize für verheiratete Zweitverdiener*innen erhöhen. Um die Erwerbstätigkeit von Frauen zu fördern und das hohe Armutsrisiko von Alleinerziehenden zu senken, sollte zudem die Kinderbetreuung weiter ausgebaut werden. Flankierende Weiterbildungs- und Gesundheitsmaßnahmen könnten die gewünschten Effekte solcher Reformen noch verstärken. Zudem würden Direktzahlungen, sofern man sie zielgenauer ausgestaltet als etwa die Heizkostenpauschale im Jahr 2022, für Haushalte mit niedrigen Einkommen ein effizientes Instrument sein, um sie in Krisenzeiten zu unterstützen oder um einkommensabhängige Zahlungen wie das Klimageld zu ermöglichen.

Anteil Beschäftigter nach Landkreisen (und kreisfreien Städten), die weniger als 12 Euro verdienten – vor der Anhebung im Oktober 2022, in Deutschland, in Prozent
Im Januar 2024 ist der Mindestlohn von 12 Euro (seit Oktober 2022) auf 12,41 Euro pro Stunde gestiegen. 2025 wird er auf 12,82 Euro angehoben.

Sicherheit im Wandel setzt außerdem voraus, dass das massive Defizit des deutschen Bildungssystems – der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg – deutlich reduziert wird. Bemühungen hierzu setzen zu spät an, wenn sie erst mit der Einschulung erfolgen. Damit Kindertagesstätten solche Defizite über frühkindliche Bildung und Betreuung abbauen und Kinder aus benachteiligten Familien individuell unterstützen können, brauchen sie überall ausreichendes und gut qualifiziertes Personal. Schulen und Kindertagesstätten in sozialen Brennpunkten sollten besonders gefördert werden.

Die Stärkung des Bildungswesens muss Hand in Hand gehen mit einer Sozialpolitik, die darauf ausgerichtet ist, Anspruchsberechtigte möglichst dazu zu befähigen, sich wieder aus eigener Kraft zu versorgen. Dabei sollte eine ausgewogene Mittelverteilung zwischen Geldzahlungen und einer starken sozialen Infrastruktur ausgehandelt werden, von der Krippe bis zur Altenpflege, von der Erstausbildung bis zur Umschulung in einen neuen Beruf, weil der alte nicht mehr gefragt ist. Präventionsprogramme sollten künftig so gestaltet sein, dass sie prekäre Milieus wirklich erreichen und nicht vorrangig die Mittelschicht. Dazu müssen Hürden in der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen abgebaut und Hilfsangebote wie aus einer Hand geschaffen werden – etwa in Form einer einzigen Behörde für alle Sozialleistungen und Beratungsangebote, dies mittelfristig auch online. 

Zusätzlich steht für die Sozialpolitik an, auf die sich verändernden Formen der Erwerbsarbeit zu reagieren: Es müssen Lücken in der sozialen Absicherung Selbstständiger geschlossen werden, da die Grenzen zwischen selbstständiger und abhängiger Beschäftigung fließender werden und Erwerbstätige in ihrem Berufsleben auch zwischen den beiden Arbeitsweisen wechseln. Projektbezogen und länderübergreifend engagierte „Crowdworker“ etwa sind häufig nur ungenügend abgesichert. Das Konzept „Digitaler Sozialer Sicherheit“ (DSS), sieht vor, das zu ändern. So sollen die Plattformen, über die Freiberufler*innen vermittelt und engagiert werden, Sozialbeiträge auf individuellen DSS-Konten sammeln, die dem jeweiligen Sicherungssystem des Landes zufließen, in dem die freischaffenden Dienstleistenden leben. Ansätze wie dieser zeigen, dass sich der Sozialstaat wandeln und an die neuen Zeiten anpassen kann.