Fachkräftemangel in Deutschland: Personal gesucht

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Deutschland verliert bis 2035 sieben Millionen Fachkräfte, weil die Babyboomer in Rente gehen und geburtenschwache Jahrgänge folgen. Mit Zuwanderung, Integration, Qualifikation, längerer Arbeitszeit sowie guter sozialer Infrastruktur kann man dem entgegensteuern.

Gleichberechtigungsindex und Kleinkindbetreuungsquote in europäischen Staaten,  in Prozent, 2022
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Wie hoch der Stand der Gleichberechtigung eines Landes ist, hängt auch, aber nicht allein vom Angebot zur Kleinkindbetreuung ab.

In der Europäischen Union verändert sich die Zusammensetzung der Bevölkerung. Denn zwischen Lissabon und Bukarest kommen weniger Kinder auf die Welt. Würden Frauen im Schnitt 2,1 Kinder gebären, bliebe die Bevölkerung ohne Einwanderung konstant. Aber die Rate liegt überall in der EU darunter. In Frankreich werden noch die meisten geboren, statistisch 1,83 Kinder je Frau. Außerdem leben die Menschen in der EU länger: In Deutschland soll 2060 jede*r Dritte mindestens 65 Jahre alt sein. Wie stark die Einwohnerzahl in den 27 Mitgliedstaaten in den kommenden Jahrzehnten schrumpfen wird, hängt aber auch davon ab, wie viele Menschen in die Gemeinschaft ein- oder auswandern. 

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Der Wirtschaftsatlas 2024

Die Klimakrise, schwindende Ressourcen und Umweltverschmutzung fordern einen Wandel. Unternehmen und Banken müssen Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung priorisieren. Neue Gesetze sollen Verschwendung stoppen und die Infrastruktur modernisieren. Der Wirtschaftsatlas 2024 der Heinrich-Böll-Stiftung diskutiert die Maßnahmen und gibt einen Überblick über die Wirtschaftsgeschichte.

 

Der Saldo ist bisher positiv, 2022 waren es je 1.000 Einwohner*innen plus 8,9. Trotzdem prognostizieren Statistiker*innen, dass die EU-Bevölkerung bis zum Jahr 2100 um rund 32 Millionen Menschen sinken wird. 

Wenn weniger Menschen in der EU leben, dürfte dies einige positive Folgen haben: Wir würden weniger Ressourcen verbrauchen, die Natur weniger beanspruchen und jede Person würde leichter eine Wohnung finden. Ob die demografische Veränderung wirtschaftliche Probleme verursacht, hängt von anderen Faktoren ab. So funktioniert das gesetzliche Rentensystem nach dem Umlageverfahren. Wer jetzt versicherungspflichtig beschäftigt ist, finanziert die Altersbezüge der aktuellen Rentengeneration. Schrumpft die Bevölkerung, müssen weniger Arbeitende für mehr Menschen im Ruhestand aufkommen. Ob das zum Problem wird, hängt zusätzlich davon ab, wie lange, wie viele und wie viele Stunden Menschen arbeiten. Je nachdem, wie stark die Produktivität wächst, können Länder auch mit schrumpfender und älter werdender Bevölkerung ihren Wohlstand erhalten oder mehren. 

Schätzung, wie viele Menschen pro Jahr nach Deutschland einwandern müssten, um dem Fachkräftemangel zu begegnen
Trotz des hohen Bedarfs rekrutierten deutsche Unternehmen 2023 bislang nur wenig Fachkräfte im Ausland – nämlich nur 16,8 Prozent.

Bereits im Laufe des 20. Jahrhunderts sank der Anteil der Jugendlichen in Deutschland. Gleichzeitig verdreifachte sich der Anteil der Rentner*innen. Trotzdem baute die Politik den Sozialstaat massiv aus und verkürzte die Arbeitszeiten; gleichzeitig stieg der Wohlstand. Möglich war dies dank einer stetig steigenden Produktivität, jedoch flachte ihre Kurve seit der Jahrtausendwende ab. Aufgrund der Fortschritte bei Technologien wie Robotik und Künstlicher Intelligenz könnte sie wieder Fahrt aufnehmen. 

Auf absehbare Zeit benötigt Deutschland jedenfalls viele neue Arbeitskräfte, vor allem für die ökologische Transformation, aber ebenso für die sozialen Dienste. Das gelingt nur, wenn Staat und Unternehmen Arbeitnehmer*innen befähigen, Windräder, Solaranlagen, Wärmepumpen, Passivhäuser oder E-Autos bauen zu können sowie die Digitalisierung auf allen Sektoren voranzubringen. Allerdings werden auch zahlreiche Stellen gestrichen, etwa im Bergbau oder in der Automobilindustrie. Jedoch gehen alle Prognosen bisher davon aus, dass deutlich mehr neue Stellen entstehen, als alte wegfallen. Suchten in den Industrieländern ab den 1980er-Jahren mehr Menschen eine Arbeit, als es Stellen gab, ist es heute vielerorts umgekehrt: Wer gute Fachkräfte finden und halten will, muss bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und die Möglichkeit zur Weiterbildung bieten. Für die Gesellschaft als Ganzes ist dabei vor allem entscheidend, dass in den für die Transformation wichtigen Branchen genug Menschen arbeiten werden. Hilfreich wäre es, wenn möglichst viele einen Schulabschluss oder eine Ausbildung hätten. Weiterhin spielt die soziale Infrastruktur in Form von Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und guter Pflege eine zentrale Rolle. In welchem Ausmaß eine Gesellschaft vom demografischen Wandel betroffen ist, hängt auch davon ab, ob sie eine aktive Einwanderungspolitik betreibt oder nicht. Deutschland hat zwar nach dem Zweiten Weltkrieg in großem Umfang Arbeitskräfte geholt; sie kamen damals aus Spanien, Italien, Portugal, Griechenland und der Türkei. Jedoch hat man lange Zeit darauf gesetzt, dass diese Menschen zurück in ihre Heimat gehen, und es dadurch versäumt, sie und ihre Nachkommen zu integrieren. In den vergangenen Jahren dagegen fanden deutlich zunehmend mehr Migrant*innen in Deutschland Arbeit. Als die Hürden für Beschäftigte in der EU fielen, wanderten insbesondere Menschen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern zu. Zuvor, in den Jahren nach der Finanzkrise 2007, waren es zahlreiche junge Arbeitsuchende aus Spanien und Portugal. Ab 2015 kam es zu neuen Flüchtlingswellen, die ihre Ursache in den Kriegen Syriens und der Ukraine hatten.  

Wenn Zugewanderte in Deutschland arbeiten wollen, müssen sie so manche rechtliche Hürde überwinden. Mit dem im vergangenen Jahr in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz versucht die Bundesregierung, den Einstieg für Migrant*innen in den hiesigen Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dafür ist nach dem Vorbild Kanadas auch in Deutschland ein Punktesystem eingeführt worden, um so gut qualifizierte Jobsuchende anwerben und identifizieren zu können. Zudem bieten deutsche Institutionen in den Herkunftsländern wie etwa Vietnam bereits Sprachkurse an.