5 Jahre später – Happy Birthday, Pariser Klimabkommen?!

Analyse

Am 12. Dezember 2020 jährt sich die Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens zum 5. Mal. Wir stellen die aus unserer Sicht wichtigsten Materialien zusammen und gehen den Fragen nach: Wo stehen wir in der globalen Bearbeitung der Klimakrise? Welche Irrwege gilt es zu verhindern? Und wie können wir den so dringend notwendigen radikalen Kurswechsel für Klimagerechtigkeit einleiten?

Verkündung des Paris Klimabkommens 2015
Teaser Bild Untertitel
Erleichterung auf dem Podium nach der Verkündung des Pariser Klimaabkommens 2015.

Paris am 12. Dezember 2015: Warten kann zermürbend sein. Es dauerte Stunden damals im kalten grauen Paris, bis das Ergebnis der COP 15 verkündet und das Pariser Klimaabkommen mit einem Hammerschlag besiegelt wurde. Und dann? Eine Mischung aus Jubel und Trauer, vor allem aber große Verwirrung – hatten wir nun gewonnen oder verloren? War das Abkommen ein großer Erfolg oder eine katastrophale Niederlage? Hinzu kam eine dumpfe Ahnung davon, dass wir in den kommenden Jahren würden höllisch aufpassen müssen, um diejenigen im Blick zu behalten, die einen Erfolg 2009 in Kopenhagen verhindert und nun plötzlich 2015 in Paris mit der ganzen Welt feiern wollten.

Am 12. Dezember 2020 jährt sich dieser historische Tag zum 5. Mal. Das ist für uns weniger Anlass zum leichtherzigen Jubeln, als vielmehr Anlass zum Grübeln und Reflektieren. Was waren die Themen, die uns bereits vor 5 Jahren große Bauchschmerzen bereitet haben und was ist daraus geworden? Welche neuen Tricks und Kniffe hat die Lobby der großen Verschmutzer in den letzten Jahren erlernt und angewendet, um sich aus der Verantwortung zu stehlen? Welche Auseinandersetzungen und Kämpfe stehen uns jetzt maßgeblich bevor? Mit diesem Artikel wagen wir einen kleinen Rückblick, eine Bestandsaufnahme und auch einen Blick in die Zukunft.

Da wir über unsere Arbeit und unsere Netzwerke Zugriff auf eine Vielzahl und Vielfalt von Analysen, Berichten, Daten, Fakten und Bildungsmaterialien haben, wollen wir diesen Beitrag bewusst dazu nutzen, eine Art „Best Of“-Sammlung zu erstellen. Diese Sammlung kann notgedrungen nur unvollständig sein und stellt auch eine persönliche Auswahl dar, die sich aus unseren Arbeitsschwerpunkten und Zugängen der letzten Jahre ergibt.

Wir freuen uns in jedem Fall über Feedback, Rückmeldungen und auch gerne Ergänzungen und Hinweise zu Quellen und Materialien, die wir ggf. übersehen haben!

Was waren die großen Fragen?

Rückblickend verschmelzen die Erinnerungen an die vielen Klimakonferenzen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte. Es ist wahnsinnig viel passiert – und doch sind wir in vielen Punkten auf der Stelle getreten. Nicht allzu selten fokussiert sich die politische Arbeit der Zivilgesellschaft bei den COPs darauf, Schadensbegrenzung zu betreiben, noch Schlimmeres zu verhindern. Dabei fällt auf, dass es eine ganze Weile gedauert hat, bis eine Generation von Klimaschützer*innen, die bei den UN-COPs sozialisiert und politisiert wurde, verstanden hat: Das Klima wird nicht auf diesen großen Konferenzen geschützt. Und dennoch, trotz aller Fragezeichen und Bedenken: ohne eine multilaterale, rechtsbasierte und völkerrechtlich verankerte Klimapolitik geht es auch nicht.

Die Heinrich-Böll-Stiftung verfolgt die UN-Klimakonferenzen sehr genau seit 2007. Gemeinsam mit unseren Kolleg*innen und Partner*innen haben wir jeweils zum Ende einer COP eine sehr detaillierte politische Analyse vorgelegt. Diese Analysen sind immer noch im Netz abrufbar. Die Überschriften geben einen Eindruck der Stimmung dieser Jahre.

Nun haben wir das Jahr 2020. Die ursprünglich für November 2020 geplante COP 26 im schottischen Glasgow wurde um ein Jahr verschoben.

Diese Konferenz gilt als die wichtigste seit Paris vor fünf Jahren, denn in Glasgow wird sich zeigen, ob das Paris-Abkommen so funktioniert wie geplant: Es sieht vor, dass die Länder alle fünf Jahre neue, und vor allem ehrgeizigere, Klimapläne vorlegen. Die Vorbereitungen bisher verliefen holprig: So entließ Premier Boris Johnson Anfang des Jahres die Präsidentin der Konferenz, die frühere Klima- und Energieministerin Claire O’Neill, die heftige Kritik an der Klimadiplomatie geübt hatte. Das daraufhin neu zusammengestellte COP26-Team besteht ausschließlich aus Männern. Außerdem überschattet der chaotische Brexit die Verhandlungen im Vereinigten Königreich.

Neue Impulse und Dynamik für die internationale Klimapolitik erwarten nun viele zum einen aus China und zum anderen aus den USA.

Was sind die großen Fragen, die uns klimapolitisch in den 20er Jahren umtreiben (werden)? Unseren Ausblick wollen wir in drei Schritten und damit drei Thesen zur internationalen Klimapolitik 2020 präsentieren.

These 1: Wir brauchen einen schnellen Ausstieg nicht nur aus Kohle, sondern auch aus Erdöl & fossilem Gas.

These 2: Anstatt die Klimakrise mit richtigen, geeigneten und gerechten Lösungen zu bearbeiten, suchen (und finden) Regierungen und Industrie immer wieder neue Ausreden, Ablenkungsmanöver und vermeintliche Abkürzungen, die auf riskante Großtechnologien oder Marktmechanismen setzen.

These 3: Es ist machbar, die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen und dabei ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Hierfür braucht es ein klares Bekenntnis zu etwas, das wir „radikalen Realismus“ nennen. Also eine schnelle und konsequente Umsetzung einer sozial-ökologischen Transformation, die sich an ökologischer und sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten und Demokratie ausrichtet.


These 1: Ausstieg aus fossiler Energie

Wir brauchen einen schnellen Ausstieg nicht nur aus Kohle, sondern auch aus Erdöl & fossilem Gas. Das heißt: Wir dürfen keine neue fossile Infrastruktur bauen und müssen bereits existierende fossile Projekte frühzeitig beenden bzw. schließen.

Radical Realism for Climate Justice: A Managed Decline of Fossil Fuel Production - Heinrich-Böll-Stiftung

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Im internationale Sprachgebrauch läuft das unter dem Begriff „managed decline“ und wird inzwischen von weit über 500 Organisationen weltweit lautstark gefordert. Und nein, der deutsche Kohleausstieg bis 2038 reicht da nicht – „too little, too late“, fasst die Kritik vielleicht am besten zusammen. Gleichzeitig, das ist klar und wichtig, müssen wir in den betroffenen Regionen einen gerechten Strukturwandel (internationale Debatte: „Just Transition“) fördern. Auch dazu gibt es einen breiten und vielfältigen Diskurs.

Die fossile Bonanza geht (fast) ungebrochen weiter

Seit Paris 2015 sehen wir leider keine fundamentale Trendwende. Die fossile Bonanza geht (fast) ungebrochen weiter. Allerdings zeichnet sich – nicht zuletzt in den COVID-bedingten Krisen – deutlich ab, dass die fossile Industrie strukturell in der Krise steckt und es nur eine Frage der Zeit sein wird, bis sich ihr Geschäftsmodell endgültig erübrigt hat. Inzwischen gibt es nicht nur in der Kohlebranche, sondern auch in der Fracking-Industrie regelrechte Pleitewellen. Die Öl- und Gasriesen machen gigantische Verluste. Diese – aus klimapolitischer Sicht hoffnungsvollen - Trends beleuchten Barbara Unmüßig und Jörg Haas in ihrem Beitrag „Die »Carbon Bubble«: Finanzwirtschaft am Kipppunkt? Wie Umweltbewegung und BlackRock die Klimakrise bekämpfen könnten“.

Der Wandel geht jedoch angesichts der dramatischen Erderhitzung immer noch nicht schnell genug und es braucht eine gewaltige Kraftanstrengung, um die Macht der fossilen Lobby und ihren Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu brechen. Denn auch wenn die Ölindustrie massiv in der Krise steckt, treiben diese Konzerne die Erschließung neuer fossiler Vorkommen in vielen Teilen der Welt voran und Regierungen investieren massiv in den Ausbau neuer Infrastruktur (siehe auch die Debatte zu den geoplanten LNG-Terminals in Norddeutschland) – gerne mit Verweis auf das neue Wunderheilmittel Wasserstoff, das bekanntlich in allen Farben des Regenbogens daherkommt.

Wie sieht es angesichts dieser unübersichtlichen Lage aus mit Temperatur und Emissionen?

Nicht gut, lautet die knappe Antwort. Die globale Durchschnittstemperatur lag 2019 bei rund 1.1 (+/- 0.1)°C über vorindustriellen Werten. Das Jahr 2019 ist vermutlich das zweitwärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Die letzten fünf Jahre sind die heißesten seit Beginn der Messungen, und auch das letzte Jahrzehnt von 2010-2019 ist die heißeste Dekade (WMO Statement on the State of the Global Climate in 2019).

Der IPCC-Sonderbericht zu 1.5°C stellte in 2018 fest, dass die globale Durchschnittstemperatur aktuell um etwa 0.2 Grad pro Jahrzehnt steigt. Damit wird die Erderhitzung den kritischen Wert von 1.5°C über vorindustriellen Werten zwischen 2030 und 2052 erreichen, sofern die Erhitzung nicht durch drastische Emissionsreduktionen abgebremst wird (IPCC 2018, Summary for Policy Makers, A1).

Gleichzeitig sind auch die Konzentrationen der zentralen Treibhausgase in der Erdatmosphäre – wie CO2, Methan (CH4) und Lachgas (N2O) – in 2019 und 2020 weiter gestiegen. Die globalen fossilen CO2-Emissionen lagen 2019 bei einem neuen Allzeithoch von 36.7 Gigatonnen (Gt) – das sind unglaubliche 62% mehr als im Jahr 1990 (WMO: United in Science 2020).

Mit dem globalen Temperaturanstieg sind auch Extremwetterereignisse stärker und häufiger geworden. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel an – und das noch einmal stärker als der langfristige Trend erwarten ließ, da auch das Abschmelzen der Eiskappen schneller voranschreitet und den Meeresspiegelanstieg vorantreibt (WMO: United in Science 2020).

Besonders klimaschädlich: Methan

Auf einen Aspekt in der wissenschaftlichen Diskussion zum Klimawandel wollen wir hier noch gezielt hinweisen: Wenn es um die Bewertung der Klimawirkung verschiedener Treibhausgase geht, dann wird die Wirkung von Methan oft unterschätzt. An vielen Stellen (gerade auch in Deutschland) wird auf einen veralteten Faktor zur Berechnung der CO2-Äquivalente von Methan verwendet und damit die signifikante Rolle von fossilem Erdgas (das nämlich hauptsächlich aus Methan besteht) verschleiert. Gemäß den aktuellen Zahlen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist der Treibhauseffekt von Erdgas in den ersten 20 Jahren bis zu 87mal stärker und in den ersten 100 Jahren bis zu 36mal stärker als der von CO2. Wenn beim Thema Erdgas neben den beim Verbrennen entstehenden CO2-Emissionen auch die bei Förderung, Transport und Lagerung anfallenden Methanleckagen berücksichtigt werden, fällt die Klimabilanz von Erdgas – insbesondere von gefracktem Erdgas – so schlecht wie die von Kohle aus. Gemäß einer aktuellen Studie von Prof. Howarth, Cornell Universität, Ithaca, NY, USA, ist die Schiefergas- und Ölförderung für rund 33% des gesamten weltweiten Anstiegs an Methanemissionen verantwortlich und trägt damit wesentlich zur Erderwärmung bei.

Wie reagieren die verschiedenen Länder auf die Dringlichkeit?

Am 9. Dezember erscheint der jährliche Emissions Gap Report von UNEP, der abgleicht, wie groß die Lücke zwischen klimawissenschaftlich Notwendigkeit und politischem Willen (zugesagten Klimaschutzmaßnahmen der Länder) ist. Der Emissions Gap Report 2019 stellte eine Lücke von 12-35 GtCO2e bis 2030 fest. Die Bandbreite ist so groß, weil es darauf ankommt, ob man auf 2°C oder 1,5°C schaut und je nachdem, ob man bei den nationalen Klimaplänen (den sog. Nationally Determined Contributions, NDCs) die Ziele mitzählt, die nur unter Vorbehalt gemacht wurde.

Wer jetzt schon mal einen aktuellen Überblick über die Unzulänglichkeit bei den NDCs bekommen will, kann auch beim Climate Action Tracker nachschauen. Dort gibt es einen neuen Überblick dazu, welche Temperatur bis zum Jahr 20100 zu erwarten ist, wenn sich alle Regierungen an ihre Zusagen halten: 2,1°C – klingt erstmal besser als 2,7°C (danach sah es noch vor wenigen Monaten aus). Aber die Zahlen sind mit großer Vorsicht zu genießen, da es um teils problematische und unklare Zusagen (siehe weiter unten zu „Net Zero“) und einen sehr langen Zeitraum (2100!) geht. Es sollte also keinesfalls als Entwarnung gelesen werden – eher als Mutmacher.

Insgesamt muss man feststellen, dass es nach wie vor bei der Lastenteilung im internationalen Klimaschutz sehr ungerecht zugeht. Das Thema Equity ist und bleibt ein Dauerbrenner der internationalen Klimapolitik. Grundsätzliche Hintergründe, Analysen und Informationen zu dem Thema finden sich u.a. bei EcoEquity und beim letzten großen Civil Society Review (2015).

Aber auch der Climate Action Tracker schaut bei seinen Ländern-NDC-Analysen auf die Frage „Fair Share“ und stellt mit Blick auf das NDC der EU fest:

We rate the EU27+UK NDC as "Insufficient". The “Insufficient” rating indicates that the EU's climate commitment in 2030 is not consistent with holding warming to below 2°C, let alone limiting it to 1.5°C as required under the Paris Agreement, and is instead consistent with warming between 2°C and 3°C. If all countries were to follow the EU’s approach, warming would reach over 2°C and up to 3°C. This means the EU’s climate commitment is at the least stringent end of what would be a fair share of global effort, and is not consistent with the Paris Agreement’s 1.5°C limit, unless other countries make much deeper reductions and with comparably greater effort.

Und was macht die EU?

Die EU muss wie alle anderen ihr neues Treibhausgasemissionsziel bis Jahresende bei der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) einreichen. Das geschieht in Form des EU-Klimagesetzes, dem Herzstück des europäischen Green Deal, mit dem die EU-Kommission Europa bis 2050 klimaneutral machen will. Ihr Zwischenziel für das Jahr 2030 will die EU deutlich anheben: Im Vergleich zum Niveau von 1990 soll der Treibhausgasausstoß nicht mehr nur um 40%, sondern laut des ersten Vorschlages der Kommission im März 2020 um 50–55 Prozent sinken. Laut Berechnungen der Vereinten Nationen müssten alle Staaten ihre Emissionen jährlich um 7.6% verringern, um das 1.5-Grad-Ziel noch zu erreichen. Auf die EU angewendet, bedeutet das eine Reduktion von mindestens 65% bis 2030. Und bei -65% landet man in der Berechnung auch nur, wenn die Verantwortung für historische Emissionen und Equity-Erwägungen außer Acht gelassen werden – aus Klimagerechtigkeitsperspektive müsste das Ziel noch weitaus ambitionierter ausfallen.

Im Oktober hat das EU-Parlament für ein 60%-Reduktionsziel bis 2030 gestimmt. Die Staats- und Regierungschef*innen konnten sich noch nicht auf ein solches Ziel einigen. Aktuell sprechen sich 17 Länder für ein Klimaziel von mindestens 55 Prozent netto aus. In Deutschland haben sich erst kürzlich die Umweltminister*innen der Bundesländer einstimmig für einen Reduktionspfad von -60% ausgesprochen. Rückendwind kommt vom Umweltbundesamt, das zeigte: Ein Klimaziel von -60% bis 2030 ist wirtschaftlich machbar und klimapolitisch notwendig.

Einige Punkte müssen in den Trilogverhandlungen, die am 30. November begannen, noch geklärt werden, so zum Beispiel die Berücksichtigung von Senken bei der Zielerreichung, ein Auslaufen direkter und indirekter Subventionen fossiler Brennstoffe, ein CO2-Budget und ein unabhängiger Klimabeirat. Außerdem braucht es dann klare Regeln, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Am Ende ist es in der EU auch eine Frage des Geldes, weshalb die Klimafrage zusammen mit den Haushaltsverhandlungen und dem Wiederaufbaufonds gedacht werden muss. Länder wie Polen drängen darauf, für ein höheres Ziel auch mehr Gelder zum Umbau der bisher noch stark kohlebasierten Wirtschaft zu bekommen.

Klimafinanzierung: Ohne Moos nichts los

Beim internationalen Klimaschutz heißt es ganz klar: „ohne Moos nichts los“ bzw. „money makes the world go round“. Reiche Industrieländer haben nicht nur eine Pflicht zur Finanzierung von Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung in den am meisten betroffenen ärmeren Ländern, sondern auch die (finanziellen) Kapazitäten.

Allerdings können wir bereits jetzt feststellen: Die Industrieländer werden das selbst gesteckte 100 Milliarden-Ziel für die internationale Klimafinanzierung vermutlich verfehlen. Und Deutschland ist zwar auf einem Weg dazu, sein Verdoppelungsversprechen zu erfüllen, neue Finanzzusagen für die Zeit nach 2020 fehlen aber noch.

So viel zum Thema Emissionen und Emissionsreduktionen. Wie aber stellt sich die Lage dar, wenn wir uns anschauen, wie es mit der Verursacherseite aussieht, also mit der Förderung und Bereitstellung fossiler Brennstoffe? Einen solchen Perspektivwechsel hin zu einer „supply side climate policy“ nimmt jährlich der Production Gap Report, dessen neuste Ausgabe am 2. Dezember 2020 erschienen ist.

Fossil Fuels – Die Supply Side Debatte in der Klimapolitik

Der 2020 Production Gap Report: Special Report on Covid-19 stellt fest: Die Welt wird die Produktion fossiler Brennstoffe zwischen 2020 und 2030 um etwa 6% pro Jahr senken müssen, um die Pariser Klimaziele zu erreichen. Konkret aufgeschlüsselt nach den einzelnen fossilen Brennstoffen heißt das: Kohleproduktion (&-verbrauch) muss im nächsten Jahrzehnt pro Jahr um 11 % schrumpfen, Erdöl um 4 % und Erdgas um 3 %.

Was aber tun unsere Regierungen stattdessen? Sie planen einen durchschnittlichen jährlichen Anstieg von 2%, was bis 2030 zu mehr als einer Verdoppelung der Produktion führen würde! Das ist mit der Temperaturgrenze von 1,5°C unvereinbar. Da helfen die schönsten NDCs nicht weiter.

Übrigens: Zwar gab es durch die ökonomischen Lockdowns in weiten Teilen der Weltwirtschaft eine minimale Atempause bei den Emissionen dieses Jahr – die temporäre Reduktion der Emissionen war dennoch verschwindend gering gegenüber den bereits in der Atmosphäre akkumulierten Treibhausgasen und auch gegenüber den insgesamt notwendigen Emissionsreduktionen. Eine positive Auswirkung hatte der Lockdown dadurch nicht auf die atmosphärischen CO2-Konzentrationen oder die Klimakrise.

Green Recovery? Von wegen: brown is the new green

Was das Ganze noch schlimmer macht: Die Wirtschafts- und Finanzhilfen, die die Regierungen in Reaktion auf Lockdown und aufziehende Wirtschaftskrise schnürten, verschlechtert den Trend noch erheblich: Sie stellten viel mehr Geld für fossile Projekte bereit als für saubere Energie – laut Production Gap Report über 230 Milliarden USD, und das ist leider eher eine konservative Schätzung.

In einem aktuellen Beitrag fordert unsere Vorstand Barbara Unmüßig deshalb, die Corona-Hilfen der EU an die Klimaziele zu koppeln.

Übrigens: Auch beim Thema Supply Side & Fossil Fuels gibt es eine Equity-Perspektive. So fragen Greg Muttitt und Sivan Kartha in ihrem Beitrag „Equity, climate justice and fossil fuel extraction: principles for a managed phase out” nach Kriterien, die für einen gerechten globalen Ausstieg aus der Produktion von Kohle, Öl und Gas angelegt werden müssten.


These 2: Immer neue Ausreden

Anstatt die Klimakrise mit richtigen, geeigneten und gerechten Lösungen zu bearbeiten, suchen (und finden) Regierungen und Industrie immer wieder neue Ausreden, Ablenkungsmanöver und vermeintliche Abkürzungen, die auf riskante Großtechnologien oder Marktmechanismen setzen.

Diese klimapolitischen Irrwege weisen aus unserer Sicht grundsätzlich in die falsche Richtung und sorgen dafür, dass knappe und wertvolle Ressourcen und politische Aufmerksamkeit in die falschen Kanäle gelangt. Außerdem marginalisieren sie die echten Lösungen und schwächen die Verhandlungsposition derjenigen, die dafür streiten.

Wir wollen hier kurz folgende Trends benennen und jeweils aus unserer Sicht gute und hilfreiche Hintergrundmaterialien aufführen, die diese näher beleuchten und erklären:

Fokus auf „Netto Null“ & Klimaneutralität

Die globalen Emissionen müssen bis etwa 2050 global auf Null gesenkt werden. Dafür müssen wir in allererster Linie dringend aufhören, für unsere Energiegewinnung, im Verkehrssektor und in allen anderen Wirtschaftsbereichen fossile Energie zu verbrauchen und verbrennen. Die Begriffe der „Klimaneutralität“ oder der „Netto Null“ meinen aber etwas anderes: Sie beschreiben nur eine Bilanz von Emissionen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es ist dabei aber erst einmal unklar, wie stark Emissionen tatsächlich reduziert wurden und wie stark darauf gesetzt wird, die überschüssigen Emissionen mit Hilfe von Offsetting (Kompensationen), Marktmechanismen und/oder riskanten Großtechnologien auszugleichen.

Gleichzeitig erwecken Netto-Null- und Klimaneutralitäts-Zielsetzungen von Regierungen sowie von großen Unternehmen den Anschein, als würde hier ein ambitioniertes Ziel verfolgt.

Hier ein paar kurze Beispiele:

Die aktuell vermutlich beste Übersicht über solche – in großen Teilen eher zweifelhafte – Pläne und Strategien bietet der Carbon Removal Corporate Action Tracker des Institute for Carbon Removal Law and Policy.

Im Prinzip ist es das Konzept der „Netto Null“ ein ziemlich problematisches „moving target“: Je länger die Emissionen weiter steigen, desto größer wird der Anteil, der am Ende kompensiert oder der Atmosphäre wieder „entzogen“ werden soll. Der diskursive Schritt hin zur „Netto Null“ bzw. zur „Klimaneutralität“ ermöglicht es Regierungen und Unternehmen ein Klimaschutz-Image, das aber dem unmittelbaren Handlungsdruck ausweicht.

Erst Overshoot, dann mit Carbon Removal auf Netto Null steuern...?

Eine wichtige Grundlage für diese Argumentation sind sog. Overshoot Szenarien. Mittlerweile hat sich in die Debatte um die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels das Konzept des „temperature overshoots“ eingeschlichen: In dieser Interpretation des international gesteckten Ziels reicht es aus, wenn die Erderwärmung zum Ende des 21. Jahrhunderts „wieder“ bei 1.5 Grad liegt, und dieser Wert in der Zwischenzeit für einige Jahrzehnte überschritten wird. Solche „overshoot“-Szenarien sind aber sehr gefährlich: Einerseits setzen sie großmäßstäbliches Carbon Dioxide Removal (CDR) voraus, also die großmaßstäbliche Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre, in aller Regel mit technologischen Mitteln (siehe unten).

Gleichzeitig ist das globale Klimasystem nicht einfach eine Maschine, deren Temperatur wir beliebig hoch- und runterdrehen können. Es ist unklar, ob sich das globale Klima nach einem „overshoot“ überhaupt linear wieder „zurückentwickeln“ würde. Hinzu kommt das Risiko, dass während dieses „overshoots“ Kipppunkte im Klimasystem überschritten werden, die das globale Klima in einen völlig neuen, unbekannten Zustand kippen lassen würden, der sich keinesfalls einfach zurückdrehen ließe. Auch besteht das Risiko von irreversiblen Schäden für Menschen und Ökosysteme während eines solchen „overshoots“.

Cover A Societal Transformation Scenario for Staying Below 1.5°C

A Societal Transformation Scenario for Staying Below 1.5°C

Eine Studie von Kai Kuhnhenn, Luis Costa, Eva Mahnke, Linda Schneider, Steffen Lange.

Zum Download.

Zum Weiterlesen für das Thema „Net Zero“ empfehlen wir dieses Briefing, das einige wichtige Climate Justice Groups zusammengestellt haben: „NOT ZERO: How ‘net zero’ targets disguise climate inaction“.

...oder gleich planen, das eigene Versagen per Kompensationsmechanismen auszugleichen: Marktmechanismen im Klimaregime und der Artikel 6 im Pariser Klimaabkommen

Die Bilanz verschiedener Emissionshandelssysteme sieht mager bis düster aus. Vielleicht liegt es genau daran, dass vor allem diejenigen für eine Erweiterung dieser Mechanismen lobbyieren, die kein Interesse an einer umfassenden Transformation haben?

Hier die grundsätzliche Kritik des Green Finance Observatory an diesem Ansatz in 3 Schritten:

Carbon Market Watch hat ausführliche und sehr informative Materialien, u.a. auch zu den Verhandlungen rund um den Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens.

Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens – eine offene Flanke der internationalen Klima-Governance

Im Rahmen des Pariser Abkommens wurden zwei neue Kohlenstoffmärkte eingerichtet, die die drei Kyoto-Märkte (Clean Development Mechanism / CDM, International Emissions Trading und Joint Implementation / JI) und ersetzen sollen. Diese Märkte fallen zum großen Teil unter Artikel 6 des Pariser Klimaabkommens. Seit 2016 erörtern die Verhandler*innen die detaillierten Regeln dieser Mechanismen. Bis jetzt gehören diese Fragen zu den offenen Punkten des sog.- Paris Rulebooks, das die Implementierungsregeln des Abkommens zusammenfasst.

Der Artikel 6 wiederum ist in zwei verschiedene Marktmechanismen aufgeteilt: Artikel 6.2 und Artikel 6.4 (letzterer wird manchmal als "Mechanismus für nachhaltige Entwicklung" oder SDM = Sustainable Development Mechanism bezeichnet). Artikel 6.2 richtet einen Kohlenstoffmarkt ein, der es den Ländern erlaubt, alle zusätzlichen Emissionsreduktionen zu verkaufen, die sie im Vergleich zu ihren eigenen Zielen erreicht haben. Diese Gutschriften werden als International Transfered Mitigation Outcomes (ITMOs) bezeichnet.

Inzwischen hat die Schweiz als erstes Land solche bilateralen Verträge mit Peru und Ghana abgeschlossen.

Ein anderes System, Artikel 6.4 ähnelt viel mehr dem Clean Development Mechanism, nur dass es nicht auf Projekte beschränkt sein wird, die in Entwicklungsländern umgesetzt werden. Auf diesem Markt wird erwartet, dass die Projektentwickler die Emissionen durch spezifische Aktionen in einem Land erwirken und dann diese Emissionsreduktionen an ein anderes Land/Unternehmen/Person verkaufen.

Weiterlesen: Carbon markets 101 - THE ULTIMATE GUIDE TO GLOBAL OFFSETTING MECHANISMS

Dabei wird schnell klar: Der Trend der Finanzialisierung von Naturkapital und anschließenden Einbindung in Märkte mit Kompensationsmechanismen betrifft schon lange nicht mehr nur die Klimapolitik, sondern andere Bereiche des Natur- und Umweltschutzes. Hierzu informiert sehr ausführlich unser Dossier zur Neuen Ökonomie der Natur.

REDD+

Die Erfahrung mit der Einbindung Wäldern in den Klimaschutz über den Mechanismus REDD+ sollte uns eigentlich viel über die Fallstricke rund um Nature Based Solutions und Marktmechanismen lehren… aber die wenigstens Regierungen wollen diese Lehren ernst nehmen. Hier eine kleine kritische Materialsammlung rund um das Thema REDD+:

    Nature-Based Solutions (NBS) – mit der Natur das Klima retten?

    Im Zuge der Net-Zero-Pläne und -Zielsetzungen nimmt auch der Run auf den Land- und Waldsektor zur Erfüllung dieser Versprechen – sowohl dem Versprechen der „Negativen Emissionen“ als auch der Offsets fossiler Emissionen. Diese führen, wie schon REDD+ zuvor, oft zu Privatisierung und Landgrabbing, Menschen- und Landrechtsverletzungen, Zerstörung von Ökosystemen und Biodiversität durch Monokulture, und viele weitere Probleme.

    Daher haben verschiedene Organisationen kritische Analysen zum Thema Nature Based Solutions veröffentlicht, wie zum Beispiel:

    Das Framing der „Nature Based Solutions“ viel zu offen und vage, um zu verhindern, dass es durch Industrieinteressen und Greenwashing kooptiert wird: Wenn Unternehmen von „Nature Based Solutions“ sprechen, kann damit genauso gut die Aufforstung mit Monokulturen und Bioenergie mit Carbon Capture & Storage gemeint sein – siehe das Beispiel Microsoft. Zum Thema Geoengineering, auch einem unserer Schwerpunktthemen, kommen wir gleich noch.

    #OurNatureIsNotYourSolution!

    Für viele Organisationen und Netzwerke vor allem im Globalen Süden ist Sache daher ziemlich klar. So sagt etwas die Global Forest Coalition unmissverständlich: #OurNatureIsNotYourSolution!

    Diese Haltung wurde rund um den Internationalen Tag der Biodiversity am 22. Mai 2020 und in Reaktion auf das Thema der UN-Biodiversitätskonvention “Our solutions are in nature” auch noch einmal bekräftigt.

    Gleichzeitig sind der Schutz und die vorsichtige, ökologische Wiederherstellung der natürlichen Ökosysteme – allen voran der Wälder, aber auch andere Ökosysteme an Land und in den Meeren – absolut zentral, um den Klima- und Biodiversitätskrisen zu begegnen. Eine Vielzahl von „real solutions“, die zu Klimagerechtigkeit in der Landwirtschaft und im Landsektor beitragen können, werden beispielsweise im „Missing Pathways to 1.5°C“ (2018) der Climate, Land, Ambition Rights Alliance beschrieben. Sie sollten aber nicht genutzt werden, um Emissionen oder Umweltzerstörung an anderen Stellen zu „kompensieren“. Stattdessen müssen wir dringend unsere fossilen und Industrieemissionen auf Null bringen, und zusätzlich nachhaltige, naturnahe Bewirtschaftungsweisen der globalen Ökosysteme vorantreiben. Das gilt auch für den Bereich der Landwirtschaft, der mit den heutigen agrarindustriellen Anbauweisen eine Ursache und ein Treiber der Klimakrise ist. Durch einen Umstieg auf eine agrarökologische Landwirtschaft könnten nicht nur Emissionen eingespart werden, sondern auch CO2 wieder landwirtschaftlichen Ökosystemen gebunden werden.

    Geoengineering – wenn gar nichts mehr hilft, soll der Technofix es richten

    Als wir im grauen winterlichen Paris im Dezember 2015 einen internationalen Lobbybrief mitzeichneten, der sich klar zum 1,5°C-Ziel bekannte, aber davor warnte, dass wir dafür nicht blind oder wissentlich die Erprobung und Anwendung gefährlicher Geoengineering-Technologien in Kauf nehmen dürfen, ernten wir viel Kritik. Wir fühlten uns wie der Grinch, der Weihnachten gestohlen hat und auf den nun alle sauer sind, weil er die allgemeine Feierlaune trübt.

    Rückblickend müssen wir aber leider feststellen: unser anfängliches Unbehagen und unsere Sorgen sind inzwischen von der Wirklichkeit überrannt worden. Geoengineering – die Idee großmaßstäblicher Eingriffe ins globale Klimasystem mittels größtenteils unerprobter Technologien – ist in den letzten Jahren im Mainstream der Klimadebatte angekommen.

    In den letzten Jahren hat sich im Feld Geoengineering tatsächlich sehr viel getan: Während das de facto Moratorium der CBD in 2010 wie ein sinnvoller, frühzeitiger Regulierungsschritt erschien und einzelne Geoengineering-Experimente über öffentliche Mobilisierung gestoppt werden konnten, ist das Feld heute mehr als unübersichtlich geworden.

    Unsere interaktive Weltkarte zu Geoengineering-Projekten und -Experimenten gibt darüber beispielsweise Aufschluss. Während die ursprüngliche Weltkarte (damals in statischer Plakatform) in 2012 rund 300 Experimente und Projekte dokumentierte, stieg diese Zahl in 2017 auf über 800 an. Zum Ende 2020 verzeichnen wir in unserer Datenbank fast 1.400 Geoengineering-Projekte.

    Für mehr Informationen zum Thema Geoengineering, den Technologien, den Risiken und Auswirkungen, den Akteur*innen, Finanzströmen und Regulierungsansätzen empfehlen wir Euch:

    Wo steuert die Geoengineering-Debatte aktuell hin?

    Heute fließen Investitionen in Millionenhöhe in die Entwicklung von Geoengineering-Technologien – sowohl von Seiten der Privatwirtschaft (allen voran die klimazerstörerischen Industrien, die großen Technologie-Unternehmen sowie reiche Einzelpersonen) als auch von Regierungsseite (zum Beispiel in den USA).

    Das Thema drängt gleichzeitig immer stärker auf die politische Agenda. Gerade im Kontext von Klimaneutralitätszielen und „Net zero“-Plänen (s.o.) spielen Technologien des großmaßstäblichen Carbon Dioxide Removals (CDR) eine immer größere Rolle. Welche sozialen, ökologischen und politischen Risiken diese Technologien mit sich bringen, bleibt dabei tendenziell unterbelichtet.

    Aus unserer Sicht ist die langjährige Verwicklung der fossilen Industrie in die Erforschung & Entwicklung von Geoengineering-Technologien, aber auch die anderen Finanzquellen aus Silicon Valley und von Regierungen einiger ölproduzierender Länder, ein großes Problem und zeigt ganz deutlich auf, in wessen Interesse diese Technologien sind und wer von ihnen profitieren wird: Klimazerstörerische Industrien und Regierungen, die den Status Quo erhalten wollen.

    In verschiedenen internationalen Foren und Gremien wird Geoengineering verhandelt. So legte die Schweiz bei der letztjährigen UN-Umweltversammlung eine Resolution zu Geoengineering vor, die aber am Widerstand einiger öl- und gasproduzierender Länder scheiterte. Weniger später begann die Internationale Standardisierungsorganisation an einer potentiellen Leitnorm zu arbeiten, die möglicherweise direkt oder indirekt Geoengineering-Technologien befördern könnte.

    Auch im Weltklimarat (IPCC) ist Geoengineering immer wieder Gegenstand von (kontroversen) Debatten: Während der Sonderbericht zu 1.5°C sehr kritische Worte fand und den Fokus auf ambitionierte Klimapfade ohne „overshoot“ legte, spielt Geoengineering auch im nächsten großen Sachstandsbericht AR6, der für 2021/2022 erwartet wird, eine größere Rolle.

    Das alles wirft natürlich schwierige Fragen auf: Wie können diese Technologien noch verhindert werden, wenn mit Investitionen in Millionenhöhe einfach Fakten geschaffen werden? Wenn gleichzeitig von Seiten einflussreicher Staaten auch nur kleinste Schritte in multilateraler Regulierung verhindert werden? Und wenn der politische Druck im Angesicht der globalen Emissionen immer weiter steigt?

    Mit unseren Materialien versuchen wir aber, auf die multiplen Risiken dieser Großtechnologien der Klimamanipulation hinzuweisen; herauszustellen, dass diese kein Beitrag zu Klimagerechtigkeit darstellen, sondern im Gegenteil einen fossilistischen und patriarchalen Status Quo absichern sollen. Dafür versuchen wir eine kritische Öffentlichkeit herzustellen und zum gesellschaftlichen Druck gegen ein geoengineertes Weiter-So beizutragen.

    Aber auch die internationale Zivilgesellschaft ist nicht untätig und organisiert sich in der Hands Off Mother Earth (H.O.M.E.)-Kampagne.


    These 3: Die Begrenzung auf 1,5°C ist machbar

    Bei aller Dringlichkeit und Dramatik: Es ist machbar, die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen und dabei ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Hierfür braucht es weder riskante Technofixes (Geoengineering) noch ein Ausblenden anderer ökologisch-planetarer Grenzen. Viel mehr braucht es ein klares Bekenntnis zu etwas, das wir „radikalen Realismus“ (#RadicalRealism) nennen. Also eine schnelle und konsequente Umsetzung einer sozial-ökologischen Transformation, die sich an ökologischer und sozialer Gerechtigkeit, Menschenrechten und Demokratie ausrichtet. Eine Einmischung für ein solch radikales Umsteuern unseres Wirtschaftens ist für uns – ganz im Sinne von Heinrich Böll - „die einzige Möglichkeit, um realistisch zu bleiben“.

    Aber was genau meinen wir mit Radikalem Realismus? Welche spannenden (neuen und alten) Strategien sehen wir in der Klimabewegung aktuell, um für Klimagerechtigkeit zu streiten?

    Was wir wirklich brauchen: Radical Realism!

    Bereits 2016 haben wir gefordert: Radikaler Realismus in der Klimapolitik! 2018 haben wir dann – parallel zum 1.5°C-Bericht des Weltklimarats IPCC – eine umfangreichere Publikation mit dem Titel Radical Realism for Climate Justice. A Civil Society Response to the Challenge of Limiting Global Warming to 1.5°C veröffentlicht. Unsere Radical-Realism-Publikation zeigt in 8 Beiträgen auf, wie die Transformation hin zu einer 1.5°C-kompatiblen Welt aussehen kann: Mit einer radikalen Abkehr von unseren ressourcenintensiven und verschwenderischen Produktions- und Konsummustern und einer demokratischen Restrukturierung zentraler Sektoren, mit Postwachstum im Global Norden, mit einer intersektionalen gesellschaftlichen Organisierung, und mit der umfassenden, aber vorsichtigen Wiederherstellung und Renaturierung unserer globalen Ökosysteme, mit dem Schutz von Menschenrechten, Landrechten und den Rechten Indigener Gemeinschaften.

    Die Publikation bringt das Wissen, die Erfahrung und Expertise von einer ganzen Reihe von internationalen Organisationen, Netzwerken und Wissenschaftler/-innen zusammen, die in ihren politischen Forderungen, ihrer politischen Praxis und wissenschaftlichen Forschung diese transformativen Pfade entwickelt haben.

    Kürzlich haben wir drei dieser Beiträge noch einmal in Form von kurzen, animierten Erklärvideos aufbereitet:

    Alles Weitere zum Thema Radical Realism findet ihr in unserem zugehörigen Radical Realism Dossier.

    Wie kommen wir dahin? Welche Strategien braucht es?

    Klar ist: Es gibt und braucht nicht den einen großen Masterplan, sondern eine Vielzahl an Ideen und Lösungswegen! Dabei mangelt es nicht an Wissen & Lösungsideen, sondern an Umsetzungswillen, Macht & politischen Mehrheiten.

    Hier sind 3 strategische Überlegungen, wie sich das in den nächsten Jahren ändern könnte – wenn wir es anpacken:

    1. Klimabewegung: Mehr, vielfältiger und radikaler

    Die Klima(gerechtigkeits)bewegung ist in den vergangenen beiden Jahren noch einmal erheblich größer geworden und hat dadurch – auch mit neu enstandenen Akteur*innen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion – erheblichen gesellschaftlichen Aufwind erfahren. Die Bewegung ist größer und vielfältiger geworden – und sie sieht, dass es nicht anders geht, als der Klimakrise an ihre systemischen und strukturellen Ursachen zu gehen.

    Neben Braun- und Steinkohle geht es mittlerweile auch gegen Erdgas, den motorisierten Individualverkehr und die industrielle Landwirtschaft.

    Auch wenn die deutschsprachige Klimabewegung nach wie vor aus sehr viel weiß dominierten Räumen und Zusammenhängen besteht, nimmt die Auseinandersetzung mit (Anti-)Rassismus in Gesellschaft und Bewegung zu, und rücken Akteur*innen (post-)koloniale Kontinuitäten in der Klimakrise in ein stärkeres Licht.

    Gleichzeitig wird auch immer deutlicher – vor allem wenn wir über den eigenen Tellerrand und in andere Teile der Welt blicken: Umweltschützer*innen werden bedroht, kriminalisiert, verfolgt und auch ermordet. Die Organisation Front Line Defenders hält in ihrer globalen Analyse für das Jahr 2019 fest, dass 304 Menschenrechtsverteidiger*innen ihr Leben verloren. Die Dunkelziffer liegt vermutlich deutlich höher. Dabei sind vor allem Land- und Umweltaktivist*innen gefährdet; 40 Prozent der Getöteten waren in diesem Bereich engagiert. Laut Global Witness wurden im Jahr 2019 in Kolumbien 64 Umweltaktivist*innen getötet, auf den Philippinen 43, in Brasilien 24 und in Mexiko 18. Daher gilt heute mehr denn je: Wer die Umwelt schützen will, muss diejenigen schützen, die ihre Territorien und Rechte verteidigen.

    2. Klagen und andere rechtsbasierte Strategien

    Angesichts der sich verschärfenden Klimakrise entscheiden sich immer mehr Akteurinnen und Akteure (Betroffene, Umweltverbände, Städte und Kommunen usw.) vor Gericht zu ziehen. Doch kann man mit Recht das Klima retten? Sogenannte Klimaklagen sollen nationale Regierungen dazu drängen, ehrgeizigere Klimaziele zu verfolgen. Sie machen Grundrechtsverletzungen durch den Klimawandel sichtbar. Es gibt Klagen gegen große Verschmutzer / Emittenten, um sie beispielsweise für Verluste und Schäden haftbar zu machen, die ihre Produkte verursachen, oder sie an den Kosten für notwendige Anpassungsmaßnahmen zu beteiligen. Das Recht ist dabei meist ein Instrument im Baukasten und Teil größerer politischer Strategien und Kampagnen.

    In den letzten Jahren hat sich in Deutschland, in Europa und auch in anderen Teilen der Welt die Nutzung des Rechts als Mittel im Kampf gegen Umweltzerstörung als außerordentlich wirksam erwiesen. Dutzende Kohlekraftwerke sind verhindert, Naturschutzgebiete gerettet und Lebensgrundlagen geschützt worden. Es gibt Klimaklagen vor dem Europäischen Gerichtshof, Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, vor den Verwaltungs- und vor den Zivilgerichten (der Huaraz-Fall gegen RWE) und viele mehr. Das Recht ist im Umbruch – nimmt aber auch selber Wirkung auf die Transformation, in der wir uns befinden. Es wird sich zeigen, ob die Welle an Klima- und Umweltklagen am Ende einen entscheidenden Impuls in die richtige Richtung geben wird. Aber bereits jetzt ist klar und spürbar: der Wind ändert sich. Die Hauptverantwortlichen der Klimakrise müssen sich warm anziehen. Die Klimabewegung wird sich nicht länger mit wohlklingenden Selbstverpflichtungen zufriedengeben, sondern auf der Einklagbarkeit von fundamentalen Rechten bestehen. Recht hat sie!

    Mehr Einblicke in die faszinierende Welt der Klima- und Umweltklagen sowie konkrete Fälle gab unsere dreiteilige Online-Seminarreihe „Mit Recht das Klima das retten?“, die wir gemeinsam mit Green Legal Impact, Client Earth, Germanwatch und dem Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen Freiburg veranstaltet haben. Die Aufzeichnungen sind hier zu finden.

    Einen guten Überblick über globale Klimaklagentrends gibt dieser Report von der LSE vom Sommer 2020.

    Das Sabin Center der Columbia University hat eine Datenbank für internationale Klimaklagen und eine für Klimaklagen in den USA.

    Die wissenschaftlichen Grundlagen für Klimaklagen trägt die Union of Concerned Scientists in ihrem Climate Litigation Science Hub zusammen.

    Besonders hervorheben wollten wir noch diese Initiative, die wir auch seit einigen Jahren unterstützen: Der Climate Justice Fund mobilisiert Gelder für Klima- und Umweltklagen im globalen Süden.

    Eine Gruppe von Aktivist*innen und Anwält*innen arbeitet auch aus strafrechtlicher Perspektive zu diesen Themen und fordert u.a. eine Änderung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, um „Ecocide“ als potenzielles internationales Verbrechen ahnden zu können. Vor Kurzem haben schwedische Parlamentarier*innen ein Expert*innen-Panel einberufen, um eine solche juristische Definition zu erarbeiten. Politisch wird eine solche Initiative u.a. von den pazifischen Inseln unterstützt (siehe z.B. die Rede Vanuatus beim ICC letztes Jahr).

    3. Neue Ansatz für multilaterale Klimapolitik

    Nach der COP ist vor der COP – das gilt auch in Zeiten einer globalen Pandemie. Die britische Regierung ist emsig mit den Vorbereitungen für die COP 26 in Glasgow im November 2021 beschäftigt. Und es scheint fast ein wenig wie Business As Usual, wie sich die verschiedenen Akteurinnen und Akteure – inklusive die internationale Zivilgesellschaft – auf „yet another COP“ vorbereitet. Wohlwissend, dass es vor allem um Schadensbegrenzung gehen wird.

    Doch eine andere multilaterale Klimapolitik ist vorstellbar. Einen interessanten und inspirierenden neuen Vorstoß in diese Richtung, die wir hier gerne kurz vorstellen wollen, ist die Idee eines „Fossil Fuel Non-Proliferation Treaty“ – analog etwa zum Nuclear Weapons Non-Proliferation Treaty, der die Weitergabe und -verbreitung von Atomwaffen international verbietet.

    Introducing the Fossil Fuel Non-Proliferation Treaty - Fossil Fuel Non-Proliferation Treaty Initiative

    video-thumbnailDirekt auf YouTube ansehen

    Der erste Schritt eines solchen Abkommens wäre es, die Expansion und Ausbreitung fossiler Energie und ihrer Infrastruktur zu verhindern. Auf dieser Grundlage würde existierende Produktion und Infrastruktur fossiler Energie abgebaut und eingestellt werden. Dieser Prozess muss aber notwendigerweise mit einem gerechten Übergang („Just Transition“) für die Beschäftigten in der fossilen Industrie und die von ihr ökonomisch abhängigen Regionen und Länder einhergehen.

    Klingt unrealistisch? Ist es vermutlich auch – unter gegebenen politischen Rahmenbedingungen. Aber die haben uns ja bekanntlich erst die Krise beschert, in der wir uns jetzt befinden. Und genau diese politischen Parameter gilt es nun mit aller Kraft zu verändern. Mit radikalem Realismus, viel Mut für neue Ideen und breiten, starken Bündnissen – auf der Straße und in den Verhandlungskorridoren und Videokonferenzkanälen.


    Uns bleibt immer Paris…

    Berlin, Anfang Dezember 2020. Homeoffice kann zermürbend sein. Covid-19 hat nicht nur unsere eigene Welt durcheinandergewirbelt, sondern auch das internationale diplomatische Parkett. Konferenzen wurden abgesagt oder verschoben. Meetings finden fast nur noch digital statt. Die partizipative Einbindung von Zivilgesellschaft funktioniert da nur bedingt. Viele Regierungen haben gerade andere Prioritäten als die internationale Klima- und Umweltpolitik. Im Frühjahr zu Beginn der Pandemie war da auch diese Mischung aus Trauer und vorsichtiger Hoffnung – die Lockdowns boten nicht nur der Natur eine kleine Atempause, sondern auch uns Menschen Gelegenheit zum Nachdenken. Wie wollen wir leben und arbeiten? Was für einen Planeten wollen wir unseren Kindern und Enkel*innen hinterlassen? Was ist wichtiger – Wirtschaftswachstum oder Gesundheit?

    Auf viele dieser Fragen haben wir in den letzten Monaten sehr klare Antworten bekommen.

    Doch inzwischen ist dieses Gefühl aus Angst und Neugierde, wie eine neue, andere, bessere Welt aussehen könnte, leider viel zu schnell wieder einer neuen Routine gewichen. Wir müssen höllisch aufpassen, diejenigen nicht aus dem Blick zu verlieren, die es sich in dieser neuen Routine gerade bequem einrichten – denn es liegt noch viel Arbeit vor uns. Die 20er Jahre haben gerade erst begonnen. 


    Wir danken Lisa Tostado und Liane Schalatek für ihre wertvollen Hinweise.